Burgtheater Wien
Festspiele Ludwigshafen
Katastrophen des alltäglichen Lebens: Caroline Peters in Rezas "Bella Figura".
Als Hansgünther Heyme, einer der Mitbegründer des deutschen Regietheaters, im Februar 2004 überraschend die Leitung des Ludwigshafener Hauses übernahm, staunten nicht nur die etablierten Theatermacher auf der gegenüberliegenden Rheinseite. Gehobene Bühnenkunst im Kurpfälzer Dreiländereck, die verorteten Theater-Feinschmecker bestenfalls am Nationaltheater Mannheim, wo einst Schillers „Räuber“ uraufgeführt wurden und schon Ida Ehre oder Willy Birgel zu Bühnenstars reiften. Heyme ließ sich nicht beirren, führte den Pfalzbau als reines Gastspieltheater ohne eigenes Ensemble, präsentierte daneben fleißig Eigen- und Koproduktionen mit anderen Bühnen. Zeitgleich etablierte er die Festspiele Ludwigshafen, bei denen jährlich ab Herbst international hochkarätige Tanztheater- und Schauspielproduktionen unter den Hochstraßen Einzug halten. Während seiner Intendanz in dem 1968 eingeweihten Zweckbau erwuchs zudem eine achtbare Kinder- und Jugendtheatersparte.
Pinters Schlagabtausch zwischen Cornflakes, Bernhard und Loriot
Tilman Gersch, seit zweieinhalb Jahren in der Nachfolge Heymes, hatte das große Erbe seines Vorgängers wohlweislich im Blick, als er zum Einstand gleich ein zweites internationales Theaterfestival mit dem etwas anstrengenden Zeitgeist-Titel „Offene Welt“ aus der Taufe hob und jetzt „die Verunsicherung der bürgerlichen Mitte“ zum zentralen Thema der diesjährigen Festspiele Ludwigshafen machte. Die gehen zwar Mitte Dezember ihrem Ende entgegen. Herausragendes Sprechtheater wird in der Industriestadt traditionell aber bis Frühjahr des nächsten Jahres gegeben. Bei vier Schauspielproduktionen und einer Lesung bringt eine Werkschau des Wiener Burgtheaters etwa bekannte Darsteller wie Joachim Meyerhoff, Caroline Peters, Roland Koch und Nicolas Ofczarek nach Ludwigshafen. Auch die Schauspielhäuser Essen und Hannover, das Deutsche Theater Berlin sowie das Düsseldorfer Schauspielhaus und das Theater Basel werden bis Juni mit rund ein Dutzend Stücken präsent sein.
Es fängt alles ganz harmlos an mit der morgendlichen Konversation eines sich überdrüssig gewordenen Ehepaares. Der freundlich-genervte Schlagabtausch über Cornflakes, geröstetes Brot und zu starken Tee könnte von Thomas Bernhard oder von Loriot stammen. Doch in die schräge Idylle platzen zwei Fremde, die sich einnisten, ein Klima der Angst erzeugen und schließlich, in einer Art feindlichen Übernahme, die Herrschaft über die Alt-Eingesessenen an sich reißen. Mit ihrem Erscheinen wird die Burleske zum Horrortrip. Harold Pinters Stück „Die Geburtstagsfeier“ (2. u. 3.12.) aus dem Jahre 1958 ist eine Parabel auf die zerstörerischen Mechanismen unkontrollierter Macht. Unwillkürlich denkt man an die „Zersetzungsoperationen“, mit denen der DDR-Staatssicherheitsdienst Agenten in den Familien- und Freundeskreis von vermeintlichen Regimegegnern einschleuste, um sie in ihrem Privatesten zu treffen, von innen heraus zu zerstören. Regie-Altmeisterin Andrea Breth hat Pinter für die Salzburger Festspiele eingerichtet. Jetzt könnte der starke Stoff auch in Ludwigshafen Funken schlagen.
Yasmina Rezas Drama als Beziehungshölle inmitten des Bühnenkitsches
Auch die zweite Produktion des Wiener Burgtheaters bemüht eifrig den Dialog. Joachim Meyerhoff und Caroline Peters machen aus „Bella Figura“ (8. u. 9.12.) im hervorragenden Ensemble mit Kirsten Dene, Sylvie Rohrer und Roland Koch zudem ein höllisches Kammerspiel. Gesellschaftssatiren wie „Kunst“ und „Dreimal Leben“ ist es geschuldet, dass Werke Yasmina Rezas als Ereignisse der Gegenwartsdramatik bejubelt werden. Katastrophen des alltäglichen Lebens mit Prisen von Humor zu Dramentexten zu formen, ist das bewährte Muster, nach dem die Französin ihre Stücke fertigt. Bei ihr wird Leben gespielt, wie manche von uns in Kindertagen den Alltag der Erwachsenen im Spielzeug-Kaufmannsladen nachstellten. Dietmar Giesing lässt das Stück laufen, zu interpretieren gibt es fast nichts. Unter seiner reduzierten Regie wirkt selbst das gelbe Cabrio auf der Kitschbühne (Produktionspartner: Audi) wie ein mahnender Fetisch in verquasten Zeiten.
Ilija Trojanow hingegen hatte fast 20 Jahre für seinen Roman recherchiert, den er sein Lebensbuch nennt. Er beschreibt darin den politischen Umbruch von einem totalitären Regime in eine Demokratie und wie sich Opfer und Profiteure des früheren Regimes nach der Zeitenwende begegnen. Der Autor führte dafür Gespräche mit Zeitzeugen und zog Originaldokumente hinzu. In der Bühnenfassung von „Macht und Widerstand“ (5. u. 6.1.) werden alle wichtigen Figuren des Romans nur durch drei Schauspieler und eine Schauspielerin verkörpert, unter anderem vom dem aus Film und Fernsehen bekannten Samuel Finzi, der ebenso wie Trojanow aus Bulgarien stammt. Am Schauspiel Hannover spielen Finzi als Widerstandskämpfer Konstantin und Markus John als Stasi-Offizier mit präzisen Gesten und starkem Körpereinsatz. Regisseur Dusan David Parizek sollte es gelingen, ein so breit gefächertes philosophisches wie politisches Panorama auch auf der Pfalzbau-Bühne zu entfalten.
Modern im Hier und Heute: Der alte Goethe und „Drei Schwestern“ aus Basel
Welche Bedeutung hat Goethes gefühlsschwangerer Briefroman über den liebeskranken Werther noch in den Zeiten von Facebook, Twitter und I-Phone? Philipp Hochmair und Nicolas Stemann erzählen Werthers Geschichte unter Verwendung des Originaltextes aus ihrer persönlichen Sicht - in einer hochgelobten „Werther!“-Aufführung (29. u. 30.1.), die sich auch in Ludwigshafen zwischen Monodrama und Performance bewegen wird.
Seit der vorletzten Spielzeit ist Simon Stone Hausregisseur am Theater Basel und heimst fleißig Preise für seine Regiearbeiten ein: Seine Bearbeitung von Ibsens „John Gabriel Borkman“ erhielt den Nestroy-Theaterpreis, wurde von der Zeitschrift „Theater heute“ zur Inszenierung des Jahres gewählt und zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Bei den letztjährigen Festspielen wurde diese Inszenierung mit Martin Wuttke in der Titelrolle auch in Ludwigshafen frenetisch gefeiert. Jetzt kehrt Stone mit Tschechows „Drei Schwestern“ (14. u. 15.6.) zurück an den Rhein, wo er erreichen will, dass sich das Publikum wiedererkennt, indem „es einer Reihe von ganz normalen, fehlerbehafteten Figuren dabei zusieht, wie sie sich durchs Leben kämpfen und sich an jeden erdenklichen menschlichen Kontakt klammern, um zu überleben.“
FRIZZmag blickt mit seiner losen Serie THEATERcross-border über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus. Was machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - stets außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein - selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.