
© Annabel Mehran
Wilco
Live verlieren sie sich schon mal im Unterbau des Jazz, meist aber kniedeln sich Wilco recht gedankenverloren im Stil von Crazy Horse und Neil Young durch ihr beachtliches Repertoire.
Bereits der Opener „Normal American Kids“ erinnert im Grundton an Wilcos erfolgreiche Phase zu Beginn des Jahrtausends. Zunächst legen die Männer um Jeff Tweedy eine klassische Nick-Drake-Eröffnung mit schmelzenden Akustikgitarren und butterweichen Stimmen hin, dann setzt im Hintergrund die E-Gitarre warme Akzente, während man inhaltlich bereits das Wehklagen über die Tristesse der amerikanischen Jugend heraushört. Nachdem nur wenige Monate zuvor mit „Star Wars“ ein eher unterkomplexes Werk der Band aus Chicago erschienen war, folgte mit „Schmilco“ eine präzise Folkrock-Scheibe, die ihre Wurzeln mal im Alternative-Country, im Pop oder im dezent klirrenden Krach schlug. Wie ein leicht abgehangener Schriftsteller, der bereits mehrere gefeierte Bestseller-Romane geschrieben hat und sich nun auf überschaubare Erzählungen fokussiert, so legen auch Wilco seit einiger Zeit ihr Augenmerk verstärkt auf die Kurzstrecke. Die durch Mark und Bein dringende Melancholie von „Sky Blue Sky“, die Detailverliebtheit von „A Ghost Is Born“ oder die von Elektronik-Gefiepe durchschossene Verletzlichkeit des Meisterwerks „Yankee Hotel Foxtrot“ - alles abgeräumt! Doch Hand aufs Herz, wer würde Wilco heute noch ernsthaft mit Progressive-Klängen in Verbindung bringen wollen, nachdem spätestens mit „The Whole Love“ im Jahr 2011 jegliche Spurenelemente eines stilistischen Mäanderns getilgt waren? Die gern zitierte Vielseitigkeit verdankt die Band vor allem dem Nachhall auf Tweedys frühere Schülercombo Tupelo Honey, in der sein ungezügeltes Spiel auf Spielzeugharven und Plastik-Ukulelen von der Musikpresse gebührend gefeiert wurde. Auch die ersten Wilco-Gehversuche bezogen ihren Reiz aus raffiniert zusammengeschusterten Old-Time-Versatzstücken und Hillbilly-Größenwahn, vorgetragen von Jungs, die aussahen, als wollten sie ihre Collegegebühren im Unterhaltungsprogramm bei Rinderauktionen und beim Rodeo-Reiten einspielen. Günstlinge der Journaille sind Wilco bis heute geblieben. Das liegt an ihrer subtilen Wandlungsfähigkeit und der Art, wie sie ihren vergeistigten Humor und ihre bisweilen kryptischen Botschaften mit dieser verdammt coolen Intelligenz auf und neben der Bühne ihren Fans unterjubeln. Im Vergleich zu früher hat ihr Singer-Songwriter seinen eigenartigen Stil als mittlerweile recht pausbäckiger Conférencier noch weiter ausgefeilt. Da erzählt Tweedy minutiös, was jetzt der Grund dafür war, weshalb sie den letzten Song abbrechen mussten. Oder er stellt sich für sein Publikum vor, wie dieses morgen wohl wieder zur Arbeit schlurfen müsse. Derangiert wohl. Hier ein paar Paraphrasen, dort eine eingestreute Metapher über den inneren Zustand der Welt, das Gekreische und Gejauchzte ist ihnen stets sicher. Ja, Wilco-Konzerte geraden zuweilen zu wunderbaren, selbstironischen Hochämtern der Konversation und Interaktion zwischen irgendwie aus der Zeit gefallenen Bühnen-Protagonisten und einem beredten Publikum, das man in den Neunzigern noch debattierend in den Foyers der Programmkinos erleben durfte. Die von der Band zelebrierten Pausen sind gut getimt, reichen gerade so, um ein frisches Bier zu holen und den bekannten Gesichtern bis zur Theke guten Abend zu sagen. Seht her, es ist nur eine Show, so schlecht ist die Welt gar nicht. Ein Polit-Punker wie Campino würde neben Jeff Tweedy jedenfalls wie ein hyperaktiver Klimaaktivist wirken, der das Proseminar in Biodiversität ständig mit Lautstärke beeindrucken will, dabei aber nur noch belächelt wird, weil er schon jedes gesellschaftsrelevante Nischenthema der Rebellion opfern will. Tweedy hingegen singt nur vordergründig von der großen Welt und ihren Fallstricken, gepackt wird er seit Jahren von Angstschüben und Depressionen, die den Sohn eines Weichenstellers bei einer Railroad-Kompagnie lieber vom Kampf gegen die Einsamkeit, die inneren Dämonen und gegen die Drogen erzählen lassen. Dazu stimmt er seine akustische Gibson-Gitarre so aufreizend nachlässig wie all die Folklegenden in ihren Holzfällerhemden vor ihm, die großen amerikanischen Geschichtenerzähler also, die noch hochbetagt auf der Bühne standen, als Tweedy 1967 in Belleville, diesem Nest in Illinois, das Licht der Welt erblickte. Noch immer kommt er nicht los von diesem Landleben, ein leicht verschrobener Eremit mit großer Plattensammlung und kleiner Familie. Er schreibt Songs übers seltsame Dasein als Popstar, dem er für einige Monate im Jahr mit seiner Band frönt, nur um auf Tourneen den Wesenskern seiner Musik stets frisch herauszuarbeiten: Nehme irgendeine bewährte Dylan-Akkordfolge, konterkariere sie mit ein paar fiesen Rückkopplungen im Feedback-Sound der frühen Siebzigerjahre und lass dieses toxische Post-Hippie-Gebräu durch pumpende Röhrenverstärker rauschen. Yippie!
Bei Wilco-Konzerten hört es sich manchmal an, als wäre der irre Geist von Keith Moon in die selbstironische Alternative-Szene gefahren.
Musikalische Umbrüche gab es trotzdem. Nach den elektronischen Experimenten bei „Yankee Hotel Foxtrot“, der zunehmenden Dominanz des Internets und der Weigerung ihrer alten Plattenfirma, das kommende Album mit all seinen verschwurbelten Loops und Samples zu veröffentlichen, zog die Kapelle aus Chicago die Reißleine, was sich im Wechsel zu einem Independence-Label und drastischen Änderungen im Bandgefüge niederschlug. Seit rund fünfzehn Jahren geben Keyboarder Mikael Jorgensen sowie Nels Cline und Pat Sansone als Gitarristen den Ton an. Live verlieren sie sich schon mal in den Unterbau des Jazz, meist aber berserkern sich Nels, Pat und Jeff recht gedankenverloren im Stil von Crazy Horse und Neil Young durch ein mittlerweile beachtliches Repertoire. Nur Glenn Kotche, der ebenfalls in den Nullerjahren zur Band gestoßen ist, spielt sein Schlagzeug, als hätte er vier Arme und mehrere motorische Epizentren. Es hört sich an, als wäre der Geist von Keith Moon in die heilige Alternative-Szene mit ihrem Hang zu ironischen Understatement-Späßen gefahren.

© Veranstalter
Wilco
Jeff Tweedy wirkt mittlerweile wie ein intellektueller Zausel, der keinem dahergelaufenen Kulturheini mehr verklickern mag, warum er im Alter wenig Lust verspürt, die Rockmusik zu erneuern.
Dazu kurvt Tweedys mittlerweile schön angeraute Stimme durch die Untiefen des Neo-Country, formuliert dabei nie den Anspruch, den Kanon der amerikanischen Folkmusik immerwährend fortzuschreiben zu müssen. Warum auch? Die Gnade seiner späten Geburt erlaubt es ihm, Wurzeln aus dem zu schlagen, was ihn beeinflusste: Die Beach Boys, die Beatles, Gram Parsons oder die Byrds, die Walker Brothers und Small Faces. Dass er die Kinks verehrt und ganz nebenbei ein bisschen wie deren Sänger Ray Davies klingt, macht seine Songs auch für viele Garagen- und Rüpelrocker erträglich. Selbst wenn es einige Pop-Verweigerer und Indie-Sonderlinge bis heute nicht glauben wollen: Im Grunde waren es immer auch die kleinen kompositorischen Kompromisse von Wilco, die dieser beseelten Außenseiter-Musik beachtliche Plattenverkäufe und Auftritte in schicken Konzertsälen bescherten - und eine breite Anerkennung, weit über die spleenige akademischen Fangemeinde hinaus. Die letzte Wilco-Veröffentlichung vor drei Jahren kann dabei nicht ganz kaschieren, dass der Ausstoß an schimmerndem Indie-Country in der jüngeren Vergangenheit höchst überschaubar war. Mastermind Jeff Tweedy ließ zwar mit zwei gefälligen Soloalben aufhorchen, wobei „Together At Last“ nur eine Ansammlung von Akustik-Nummern früherer Wilco-Erfolge war. Zusammen mit seinem Schlagzeug spielenden Sohn Spencer gründete der Bandleader zudem vor einiger Zeit die Combo Tweedy. Auf dem Debüt „Sukierae“ ist neben subtilem Songwriting leider auch zu hören, dass der Sprössling ein lausiger Drummer ist. Neben einem eigenen Festival und regelmäßigen Livedates gab es also im Grunde wenig News-Gewitter um die Antihelden vom Michigansee, allenfalls beschwingte Zeitreisen in die eigene Bandgeschichte, offeriert unter fremden Labels. Pünktlich zum deutschen Bücherherbst erscheint nun immerhin Tweedys lang erwartete Autobiografie, zeitgleich soll das neue Album „Ode To Joy“ an alte Glanztage anknüpfen und die kommende Europa-Tournee flankieren. Jeff Tweedy trägt mittlerweile edle Brillen mit schwarzen Rändern, einen Vollbart und Cowboyhut. Auf jüngeren Fotos sieht er aus wie ein Farmer, der im Nebenberuf seiner Professur in Musikwissenschaften nachkommt. Ein intellektueller Zausel, der keinem dahergelaufenen Kulturheini mehr verklickern mag, warum er im Alter wenig Lust verspürt, die Rockmusik zu erneuern. „Love Is Everywhere“ heißt die erste Singleauskopplung von der neuen Platte. Es geht um in Sonnenlichter getauchte Seen, schlummernde Städte und die Abgeschiedenheit der Provinz, es geht darum, dass die Liebe irgendwann triumphieren wird. „Wir sind dazu verdonnert, der Liebe zum Triumpf zu verhelfen“, erzählt Tweedy leicht religiös verbrämt, „was natürlich zur Folge hat, dass wir diesen Triumpf dann auch jenen gönnen müssen, die wir nicht mögen oder sogar hassen.“ Das Lied erinnere ihn daran, zukünftig mehr aus Empathie zu handeln, weniger aus Mut, Angst oder Empörung heraus. In „Love Is Everywhere“ schmiegen sich schmelzende Akustikgitarren an flauschige Orgelteppiche, was auch den Wesenskern des gesamten Albums gut beschreibt, nur klingt Tweedy hier nicht mehr wie Ray Davies, sondern wie einst John Lennon nach durchzechter Nacht. Vietnam, Bed-Ins mit Yoko Ono, Dada und Fluxus, die ganz große Hafenrundfahrt also? Pah, nicht mit Wilco! Naturlyrik trifft Dylan, große Tragödien treffen auf kleine Leute, das war’s. Der neue Song dauert drei Minuten und dreiunddreißig Sekunden. Es ist großartige Musik. Auf Kurzstrecken sind Wilco eben unschlagbar. Wilco spielen am Donnerstag (12. September) im Berliner Tempodrom. Weitere Tour-Stationen sind Köln (13.9.), Hamburg (14.9.) und Zürich (18.8.). Jeff Tweedys deutschsprachige Autobiografie „Let's Go (So We Can Get Back)“ erscheint ab 22. August im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Tickets sowie weitere Infos zur Band und den Veranstaltungsorten gibt es unter www.wilcoworld.net, www.fkpscorpio.com, www.tempodrom.de, www.carlswerk-victoria.de, www.elbphilharmonie.de und www.volkshaus.ch