© Thomas Aurin
Schauspiel Frankfurt
Das selbstbestimmte Leben vor Augen, aber die Bigotterie der Männer im Rücken: Sarah Grunert verleiht ihrer Emilia mit starkem stimmlichen Ausdruck eine szenische Präsenz von subtiler Frauenpower.
Nein, es wurde nichts vermisst, das Körperpuder, der Tüll, die Perücken und all der barocke Talmi, mit dem man Lessings Bühnen-Evergreen im deutschen Sprechtheater gerne salbt, ganz so, als wäre er ein Stück von Moliere. Stattdessen traurige Girlanden, Luftballons und Lüster, dazu ein Kreuz auf vergilbter Tapete. Gähnende Leere allerorten. Statt Pomp von 1772 hat Bühnenbauer Patrick Bannwart dem Schauspiel Frankfurt so etwas wie Purismus im Vintage-Stil der heutigen Postmoderne verordnet. Irgendwann regnen die Zitate des untergehenden Adels von der Decke wie das schlechte Gewissen einer verkaterten Faschings-Gesellschaft am Aschermittwoch. Aufbruchsstimmung fürwahr, aber die Last der Vergangenheit lässt die Figuren eben bedrohlich straucheln auf ihrer Suche nach innerer Einkehr und Selbstreinigung.
Dass „Emilia Galotti“ am Main so sparsam eingerichtet daherkommt, ist wohl der Aufklärung geschuldet, auf die Gotthold Ephraim Lessing zusammen mit dem Zeitgenossen Kant gerne verwiesen hatte: Perspektiven für die Gestaltung eines menschenwürdigen, selbst bestimmten Lebens sollten auch jenen eröffnet werden, die selbstverschuldet in die Unmündigkeit stolperten. Doch wer fragt Emilia heute, wie sie leben will? Wie sie mit den Verlockungen, Drohungen und Wünschen umgehen wird, wenn die Fallstricke der modernen Welt sie in ihrer antrainierten Selbstständigkeit straucheln lassen? Auch in David Böschs Inszenierung bleibt das unbeantwortet. Der Regisseur führt uns im Gegenzug die dramaturgischen Leerstellen als sprachmächtige Sprachlosigkeit vor Augen. Bei ihm werden falsche Heilslehren und reale Frömmigkeiten nicht bloß mitgedacht, sie brechen sich zuweilen nonverbal durch karikierte Figurenzeichnungen hindurch Bahn.
In Frankfurt sieht man demnach, wie aus Angstbürgern Wutbürger werden, wenn die Klerus-Hörigkeit deren Genussfreuden ausbremst und sie auf (hier nur eingebildeten) Kirchbänken Buße tun. Wie Emilias überall Begierden witternder Vater sich einmal mit Weihwasser aus dem Aschenbecher besprengt, weil er das Unheil um die Tochter heraufziehen sieht und keuschen Verzicht für das einzig wahre Gegenmittel hält, was hier durchaus als schwache bourgeoise Replik auf den Weinstein-Skandal verstanden werden darf. Tochter Emilia tritt folgerichtig als provozierendes Abziehbild schulmädchenhafter Tugend im kniefreien Spitzenkleidchen auf, ein Angstbündel gewiss, das seine Triebhaftigkeit leider recht früh und reichlich platt impliziert bekommt, wenn vorne an der Rampe der körperbehinderte Verlobte (Wolfgang Vogel) im Rollstuhl kräftig auf die Lust- und Spaßbremse tritt.
Sarah Grunert verleiht der Titelrolle mit starkem stimmlichen Ausdruck eine szenische Präsenz, die umso deutlicher trägt, je reduzierter die Regie aufträgt. David Bösch hat die epochenübergreifende Anklage gegen Standesdünkel und Fürstenwillkür auf eindreiviertel Stunden eingedampft und Nebenrollen gestrichen. Er setzt auf Tempo, um dem alten Schulstoff als moderaten Klamauk neues Leben einzuhauchen. Junger Mann liebt junge Frau. Die ist bereits vergeben. Also kommt es zur Katastrophe. Davor sehen wir Emilia zwischen frömmelnder Sinnsuche und sinnlichem Verlangen pendeln. Herrje, die Göre kann sich eben nicht entscheiden zwischen flottem Prinz und jungfräulicher Redlichkeit, was reichlich komische Momente generiert, denn Issak Dentler ist als angehimmelter Adeliger eher ein Ritter von der traurigen Gestalt: Ein abgehalfterter Zausel mit Papp-Krone, dessen Gewaltausbrüche mehr einer tiefen Verunsicherung entspringen als seinem ölig-verwitterten Charakter. Passt schon.
Bei Lessing sind wir immer auch im Maschinenraum menschlicher Niedertracht.
Sein Kompagnon kann ihm in dieser Hinsicht das Wasser reichen. Fridolin Sandmeyer zeichnet Marinello als rückgratlosen, also modernen Liebesdiener. Es ist kein Jago oder Mephisto, der da wurmhaft für seinen prinzlichen Chef die Strippen zieht. Dieser Maschinist der zwischenmenschlichen Niedertracht will im Grunde seines steinernen Herzens selbst geliebt werden, deshalb bringt er trotz gelungenem Mordkomplott gegen den Emilia-Verlobten und der Entführung der Begehrten nur einen feinen Maßanzug und Höflichkeitsfloskeln, aber nicht viel an Bosheit mit auf die meist leere Lustschloss-Bühne.
© Thomas Aurin
Schauspiel Frankfurt
Okay, Bewerbungsfotos für Hochzeitsmessen sehen anders aus: Schulmädchen-Klischee (Sarah Grunert) trifft auf öligen Samt-Zausel (Isaak Dentler) - das ging bereits im achtzehnten Jahrhundert daneben.
Nicht mal den scheinbar schwachen Frauen ist er gewachsen: Emilias Mutter (Olivia Grigolli) kichert ihn sich vom Leib, den schüchternen Vergewaltigungsversuch hat man am Main gleich ganz gestrichen. Ein Hinweis gar auf die latente Homoerotik unter den adeligen Alphamännchen? Nö, bei Bösch wirken die maskulinen Ränkespiele im Kraftzentrum der Tragödie wie pubertäre Testosteron-Kabbeleien unter Pennälern, die sich im Pausenhof gerne mal in den Schritt fassen. Wenn Orsina (Katharina Bach), die verstoßene Geliebte des Grafen, hier in den alten Gefilden als erstarkte Femme fatale posttraumatisch lustwandelt, dann überrumpelt sie den nur schwach drängenden Marinelli mehr mit kalter Gerissenheit denn mit heißem Eros. Subtile Frauenpower bringt allerlei Standesdünkel mitsamt zugehörigen Intrigengebäuden zum Einsturz - dem Frankfurter Lessing steht dieser frühfeministische Furor, trotz ansonsten uneindeutiger Lesart, recht gut. Besser jedenfalls als manch überspannt wirkendes MeToo-Debatten-Korsett, in das die Werke des toleranten Oberlausitzers neuerdings gerne seminaristisch eingeschnürt werden.
Der einzige, der inmitten dieser Paradiesvögel und emotional behinderten Männer zum korrektiven Gefäß der gesellschaftlichen Entrüstung gerät, wird am Schluss ebenfalls zum Mörder. So steht es jedenfalls bei Lessing, aber bei Bösch hält am Ende überraschend Emilia die Pistole in Händen und zielt in den Zuschauerraum. Dem vermeintlich stoischen Vater (Sebastian Kuschmann) erscheint die Tat an der Tochter eben nicht wie die Errettung der Sittlichkeit. Und weil sich auch die Tochter nicht richten mag, soll stattdessen das Theaterpublikum die vergiftete Moral-Suppe gesamtgesellschaftlich auslöffeln: Starker Tobak als Wegzehrung für die Heimfahrt vom Schauspielhaus. „Die Rose wurde gebrochen“, hören wir nicht den Vater, sondern die Tochter sagen. Doch ob dieser Prinz ein Sturm gewesen wäre, der sie entblättert hätte, darf nun wirklich bezweifelt werden.
Letztlich holen sich auch in diesem Theater die Handelnden ihre Legitimation aus der Selbstbespiegelung in der eigenen Echokammer. Da es in Böschs Guckkasten-Theater nur eine davon gibt, wird uns eben die heillose Selbstzerstörung des bürgerlichen Individuums lautstark wie in einer monolithischen Sprachbox vor Augen geführt, in der man sich über weite Strecken amüsant verlieren kann. Doch wie gekonnt sich darin mittlerweile ein eingespieltes Schauspielensemble aus bewährten und neuen Kräften nach diversen künstlerischen Umbrüchen die Bälle zuspielt, das darf als das eigentliche Wunder vom Main gelten.
Die nächsten Schauspielhaus-Vorstellungen von „Emilia Galotti“ sind am 26. Januar und 7. Februar. Infos zum Frankfurter Gesamtspielplan gibt es unter www.schauspielfrankfurt.de