
© Dennis Dirksen / Rowohlt Verlag
Heinz Strunk
Heinz Strunks jüngster Roman ist eine erneute Verneigung vor Thomas Mann: „Zauberberg 2“ erzählt von Niedergang und Selbstverlust, ohne ästhetizistische Dekoration, dafür voller schmerzhaft peinlicher Szenen aus ungezählten Therapiestunden.
Heinz Strunks Bücher führen uns in Welten, um die wohl die meisten lieber einen großen Bogen machen würden. In die Welt des schwitzigen Männerwitzes etwa, in die Köpfe jener Typen, die Frauen einst als Autoscooter-Pick-Ups betrachteten und jetzt den Kosmos glatter und durchgecoachter Digitalära-Performer beherrschen. Manchmal begegnen sich diese Welten wie auf geheimnisvollen Umlaufbahnen. Dann wird der Autor Strunk prompt zum Satiriker, der brillant aufdröselt, wie viele Überschneidungen es tatsächlich zwischen bildungsfernen Milieus und den gut situierten Kreisen gibt, die sich erhaben über den Plebs wähnen.
Den Erzählband „Der gelbe Elefant“ etwa kann man in Teilen als Blick in den Spiegel betrachten, wenn man den unbedingten Überlebenswillen der Protagonisten hinter den Geschichten erkennen will. Angenehm sind solche An- und Ausblicke natürlich nicht. In der Schlüsselerzählung „Eisengreis“ hält sich 75-jährige Bodybuilder Werner Spremberg für unkaputtbar. Die Osteoporose-Diagnose seines Arztes ringt er mit Laufeinheiten und Klimmzügen nieder - bis ihm bei den Liegestützen die Knochen versagen und sein Oberarm bricht. Da liegt er jetzt, der Werner, ähnlich jenem kafkaesken Käfer, nur auf dem Bauch statt auf dem Rücken strampelnd, robbt durch den Flur und harrt dem Tag, an dem sein Nachmieter vorbeikommt und ihn retten wird.
Bis dahin muss er durchhalten. „Bis ein Mensch verhungert, dauert es viel länger, als man gemeinhin annimmt“, macht Werner sich Mut. Seine Fettreserven sind begrenzt, werden aber ausreichen, weil der Tank des Wasserspenders fast bis zum Anschlag gefüllt ist. Werner beizuwohnen, wie sein Weltbild zusammen mit seinem Körper einzustürzen droht, das ist große Erzählkunst. Wenn der Widerspenstige sich weigert, die Realität anzuerkennen, dann sind wir als Lesende bereits inmitten einer Kafka-Parabel, übergossen mit einem ordentlichen Schuss Hamburger Humor.
Um Selbstbilder, die nicht mit der Fremdwahrnehmung zusammenpassen und sich dann eher als Selbsttäuschung erweisen, geht es im Grunde immer bei Heinz Strunk. Ein Figurenkabinett aus selbsternannten Performern und Keynote Speakern, die vom eigenen „Powerwording“ so überzeugt sind wie von sich selbst. In einer für Strunk typischen Story strandet so ein Kerl auf einer seiner beruflichen Rundreisen im Neandertal, verläuft sich dort und stößt auf eine Gruppe von Menschen, die tatsächlich aussehen wie in der Steinzeit. Als er von diesen gefangen genommen wird, helfen ihm seine Coaching-Worthülsen nicht mehr weiter. Die Geschichte endet auf denkbar strunkige Art und Weise, es wird fies, lustig und absurd - meist alles gleichzeitig. Je surrealer es in den Erzählungen des umtriebigen Musikers, Schauspielers, Produzenten und Satirikers zugeht, desto interessanter werden sie.
Die Krise des Mannes als kalauernde Überhöhung.
Er ist kein Liebling des Feuilletons. Distinguierte Teile der Medien werfen dem Tausendsassa aus Bevensen vor, pausenlos nur sehr erfolgreiche Variationen derselben Erzählung zu veröffentlichen - die des weißen Mannes in der Krise. Der findet sich in der Gesellschaft nicht mehr zurecht, Geist und Körper verfallen, auch mit den Frauen ist es schwierig. Mindestens. Humor entstünde in dem Roman „Ein Sommer in Niendorf“ etwa vorwiegend durch den verächtlichen Blick auf die Körperlichkeit der Personen, bekrittelte der Deutschlandfunk. Der Blick auf die männliche Dekadenz sei für eine solche Erzählung von alternden Männern genauso stereotyp wie die Frauenfiguren im Buch.
Heinz Strunk hat „Ein Sommer in Niendorf“ deutlich an Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ angelehnt und gibt seiner etwas vorhersehbaren Männlichkeitsgeschichte einen neuzeitlichen Anstrich: Genauso wie Gustav Aschenbach in Venedig zu dem sich jugendlich gebenden Greis wird, den er am Anfang seiner Reise noch verachtet, obwohl er ihn bereits in sich getragen hat, wird Strunks bürgerlicher Dr. Roth zum infantilen Ekel des Digitalzeitalters. Die Ex-Frau wird schon deshalb zum Feindbild, weil sie sich gefühlskalt um ihre eigenen Bedürfnisse kümmert. Am Ende taugt eine von vielen anderen körperlich abstoßenden Frauen trotzdem zum Hafen, in den der durchgeschüttelte Roth in seiner verunsicherten Courage einlaufen darf, denn sie ist in der Lage, ihn sexuell zu befriedigen und ihm mütterliche Fürsorge entgegenzubringen.
Aber wird die Krise des Mannes hier literarisch wirklich gelindert oder gar geheilt, indem tradierte Geschlechterrollen aufgerichtet werden? Selbst wenn die Figur des weißen Krisenmannes als Seismograf für gesellschaftliche Probleme wahr- und ernstgenommen werden könnte, so steht sie doch unter dem Vorbehalt polemischer Krisenbewältigung und kalauernder Überhöhung. Aufrichtige Empathie, wie sie Feministinnen Strunk vorwerfen, schlägt diesem Roth im Buch jedenfalls höchst selten entgegen, währenddessen seine weiblichen Opfer noch als Staffage ihrem aufgebrummten Nischendasein überraschend häufig entkommen.
Weder ist Strunk affirmativ, noch stellt er die Figuren einfach nur aus. Das ist der Trick, der schon im Roman „Der goldene Handschuh“ funktionierte. Strunk erzählt die Geschichte des Serienmörders Fritz Honka, ohne die Stilmittel des Krimis anzuwenden - nicht blutrünstig, sondern pissetriefend, vor allem mitfühlend verstörend. Gerade wenn man sich damit abfindet, dass Strunk die Bestialität von Honkas Vergehen an seinen Opfern extrem detailliert widergibt, ist man diesem Widerling schon längst zu nah gekommen. Auch weil Strunk den Haudrauf Honka als einen Mann anfertigt, der das Gute und Gesunde immer wieder in sein Leben zurückholen will.
Hinter jeder Figur lauert der deutsche Schuldkomplex.
Strunk erzählt seine Gruselgeschichten nicht, um mit dem Finger auf die Kaputten zu zeigen, sondern um danach zu suchen, was sie kaputt gemacht hat. Jedes Monster bekommt einen Moment der Würde. Strunk erinnert an die Umstände, die diese Menschen zugrunde gerichtet haben, an eine Gesellschaft, die moralisch so hoch verschuldet war, dass sie lieber bei Ritzen-Schorsch, Doornkaat-Willy oder eben Honka hängenblieb und weitersoff. St. Paulis Kneipen sind in Wahrheit nichts anderes als vergessene Nachkriegsschauplätze, hinter denen sich Abgründe deutscher Schuldkomplexe auftun.
Die Täterperspektive so sehr in Richtung Mitgefühl zu biegen - hier mag man der Medienschelte durchaus folgen - ist ein riskantes literarisches Spiel. Bret Easton Ellis vergewaltigender Erzähler in „American Psycho“ war selbstentflammte Kunstfigur und irgendwie auch Opfer eines verpeilten Wall-Street-Rausches. Honka aber schaut uns immer noch als traumatisierter Widergänger deutscher Geschichte über die Schulter. Das macht ihn als hormongesteuerten Schlagetot interessant und als archetypischen Zukurzgekommenen gefährlich.
Der Tag, an dem eine latent woke Kulturjournaille dem heute 63-Jährigen die Liebe entzieht, lässt sich exakt datieren. Es ist der 29. Februar 2020. Heinz Strunk, der mit bürgerlichem Namen Mathias Halfpape heißt, erhält den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, spricht in seiner Dankesrede von einer deutschen Humorlandschaft, die mittlerweile aus „in industrieller Massenfertigung produzierten Witzen“ bestehe. Ironie, Satire und Polemik würden „auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runtergedampft, rücksichtslos entkernt von allen weltanschaulichen Brüchen und Differenzen“, also all dem, was Komik ausmache. Selbst wenn gute Ideen zugrunde lägen, würde „von unzähligen vor- und nachgeschalteten Filtern verdünnt und gesiebt, bis nur noch grobkörniger Ramsch“ übrigbliebe.
Die Spitzen im nordhessischen Rathaus saßen, nicht etwa, weil Strunk unverblümt Zensur andeutete, sondern möglicherweise die Begriffe „Unternehmen Barbarossa“, „Vernichtungsfeldzug“ und „Gleichschaltung“ gefallen sein sollen. Strunk, dem bis dato das Label eines „Kultautoren“ angepappte, auch weil er mit seinem Cliquen-Humor-Vehikel „Studio Braun“ für dreißig Jahre gehobenen Unsinn stand, sah sich plötzlich auf einer Stufe mit Dieter Nuhr und Uwe Tellkamp.
Verächtlich und mit einigen politischen Untiefen blicke er in seinen patriarchischen Romanen auf Frauen, zürnten unisono die Meinungsmacher des Literaturbetriebs. Es war ein Vorgriff auf jene Art der Verleumdung, mit der in der anstehenden Coronapandemie widerständige Autoren mundtot gemacht werden sollten. Schnell erhärtete sich der Eindruck, dass für eine sich stündlich ändernde Infektionslage bei gleichzeitig eingefrorenem Alltag die Literatur nicht das richtige Medium sei, um Kritik jedweder Art zu äußern. Was nach Strunks mutigen Comedy-Bashing als öffentlich-rechtliche Maulkorbverordnung medial nachhallte, lieferte schnell die Blaupause für sämtliche Gendersternchen-flankierte Umerziehungsmaßnamen, denen sich die meisten Kulturschaffenden bis heute hündisch unterwerfen.
Gemütskrank zwischen Mann, Chandler und Ostsee-Ödnis.
Strunks jüngster Streich ist eine erneute Verneigung vor Thomas Mann. Die Heilanstalt in einem ehemaligen Schloss, die Jonas Heidbrink in „Zauberberg 2“ aufsucht, beherbergt allerdings nicht Lungenkranke, sondern Gemütsschwache. Wer sich nach Anklam begibt, ist der Außenwelt schon vorher abhandengekommen. Einen Monat will Heidbrink sich geben in diesem von Sümpfen und Wäldern gesäumten Areal in Ostseenähe. Doch nach einem Jahr ist keine Besserung in Sicht, nicht bei Heidbrink und auch nicht fürs Sanatorium, das nach Monaten des Niedergangs sein herrschaftliches Eingangsportal schließt.
Anders als beim berühmten Lübecker bricht am Ende kein Weltkrieg aus, in dem sich die Spur des Protagonisten verliert. Strunk macht es ein paar Nummern kleiner, aber ebenso tödlich für seinen Anti-Helden. Dass aus der überbordenden Vorlage keine Thomas-Mann-Parodie oder ulkige Stilübung für Bildungsbürger geworden ist, liegt an der Qualität des strunkschen Erzählens: seinem Ohr für Redensarten, den chandleresken Vergleichen, seiner Lust, das Schreckliche wie das Schöne mal zart, mal derb-gröblich zu beschreiben.
„Zauberberg 2“ schlägt aus der Kombination von siechender Hauptfigur und denkbar monotonem Ort komische Funken und schaut dabei unerschrocken in die seelischen Abgründe unserer Zeit. Eine Abstiegserzählung über Niedergang und Selbstverlust, ohne ästhetizistische Dekoration, dafür voller schmerzhaft peinlicher Szenen aus unzähligen Gruppentherapiestunden.
„Zauberberg 2“ von Heinz Strunk. Die gebundene Ausgabe des Romans (288 Seiten) ist als Hardcover mit Schutzumschlag im Rowohlt Verlag erschienen und kostet 25 Euro (als E-Book 21,99 Euro) Weiterführende Infos zum Gesamtprogramm halten die Internetseiten des Rowohlt Verlags bereit.
Der Autor gastiert im Rahmen seiner Lesereise am Sa., den 31. Mai, im Frankfurter Zoom. Karten bei FRIZZ-Tickets Darmstadt (Rheinstr. 30) unter Tel. 06151.915888.