©Jochen Melchior
Schlachthof Wiesbaden
Als der Verein KUK e.V. 1994 in den Hallen des ehemaligen Schlachthofes seine Heimstatt fand, konnte kaum jemand absehen, dass sich hier eine kulturelle Institution entwickeln würde, die heute weit über die Grenzen der Landeshauptstadt hinaus großen Anklang findet. Eine große Erfolgsgeschichte, keine Frage. FRIZZmag traf anlässlich des großen „Schlachthof“-Jubiläums Hendrik Seipel-Rotter (Pressesprecher), die Booker Dennis Peters und Carsten Roth sowie Sarah Armbruster (Catering, Vermietung) zum Gespräch.
FRIZZmag: Ende 1994 habt ihr das erste Konzert in der „Räucherkammer“ veranstaltet. Hättet ihr damals gedacht, dass sich der alte „Schlachthof“ am Wiesbadener Hauptbahnhof 30 Jahre später zu einer echten Live-Institution mit Fans aus ganz Deutschland entwickeln würde?
Hendrik Seipel-Rotter: Ich bin 1999 dazugekommen, Dennis kurz nach mir. Es war die Zeit, in der die ersten Gehälter ausgezahlt werden konnten. Anfangs zwar noch auf sehr niedrigem Niveau, davor aber wurde ausschließlich ehrenamtlich gearbeitet. Es gab früh den Wunsch, im „Schlachthof“ sozialversicherungspflichtige, sichere Jobs zu schaffen. Der Schlachthof wurde gleich von Beginn an gut angenommen, dennoch hätten wir beim Einstieg nicht gedacht, dass wir 30 Jahre später stehen würden, wo wir heute stehen.
Von Anbeginn hat das „Schlachthof“-Team im Kollektiv gearbeitet mit sehr flachen Hierarchien. Wo liegen die Vorteile und wo die Nachteile gegenüber einer klassischen Veranstaltungsfirma?
Hendrik: Kollektiv bedeutet für uns vor allem ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Mitgestaltung. Das Konstrukt haben wir mit den Jahren immer wieder an die aktuellen Gegebenheiten angepasst. Beispielsweise besprechen wir nicht mehr wie in den Anfangsjahren jeden Mittwoch mit dem gesamten Team alle Themen, die den „Schlachthof“ betreffen, im Plenum. Das wären endlose Meetings. Mittlerweile besprechen wir den Alltag außerhalb der Plenumsstruktur autark in einzelnen Teams. Das Plenum gibt es allerdings auch heute noch. Es trifft sich sechsmal im Jahr und bespricht Grundsätzliches: Wie wollen wir zusammenarbeiten, was ist die Mission des Schlachthofs ... Carsten Roth: Eine Veranstaltungsstätte wie den „Schlachthof“ als Verein und im Kollektiv zu betreiben, ist meines Wissens auch einmalig in Deutschland. Dennis Peters: Zumal 99 % aller Veranstaltungen direkt von uns organisiert werden. Wir haben bei uns keine Einmietungen oder Ähnliches.
Euer Programm ist enorm vielfältig und reicht von Metal über Hip-Hop und Singer-Songwriter-Konzerten bis zu Lesungen mit Podcastern wie „El Hotzo“. Nach welchen Kriterien wählt ihr eure Themen aus?
Dennis: Nach Erfolg (lacht). Was nicht kommerzieller Natur sein muss. Carsten: Natürlich versuchen wir, bei der Programmplanung auch auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis von Künstlerinnen und Künstlern zu achten. Allerdings bekommen wir bei Pop-Artists immer wieder zu hören, wir seien ja ein Punk- und Metal-Laden und sie würde ihre Künstler:innen nicht bei uns sehen. Mitunter liegt’s auch an der Stadt, also dass Agenturen meinen, dass ihre Acts in Frankfurt mehr Leute ziehen. Da wird heute viel über „Spotify“ und Big-Data-Auswertung gebucht und weniger dem Veranstalter vor Ort vertraut. Aber im Laufe der Zeit verändern sich die Sichtweisen. Wir sehen uns beispielsweise gar nicht mal so sehr als der Punk- und Metal-Laden, der wir früher vielleicht mal waren, sondern orientieren uns natürlich auch an Strömungen und neuen Trends. Dennis: Man muss halt immer dranbleiben. Wir sind natürlich auch Musikfans und wir haben als Team vor vielen Jahren vom „Schlachthof“ – also auch von uns selbst – einen Auftrag bekommen mit einer festen inhaltlichen und politischen Agenda, an die wir uns bei unseren Konzertbuchungen halten. Über die Jahre hat sich so ein großes Netzwerk entwickelt und wir bekommen sehr viele Acts angeboten. Das war nicht immer so. Als ich damals angefangen habe, mussten wir noch ziemlich viel bei den Agenturen Klinken putzen, da hieß es nicht selten mal „What the fuck is Weisbaden?“
Im November 2010 wurde der alte „Schlachthof“ geschlossen und abgerissen. Ihr musstet über zwei Jahre mit Shows an anderen Orten und eurem Festival „Folklore“ überbrücken, bis der Neubau fertiggestellt war. Eine nicht ganz einfache Phase. Wie seht ihr diese Zeit im Rückblick betrachtet?
Dennis: Zum Glück neigt der Mensch ja dazu, negative Erinnerungen auszublenden. Das war eine schreckliche Zeit damals, aber anders betrachtet auch eine tolle Zeit, denn diese Phase hat uns als Team extrem zusammengeschweißt. Natürlich haben uns damals auch Leute verlassen, was ich traurig fand. Aber die, die dabeigeblieben sind, haben sich zu 120 % für den „Schlachthof“ entschieden. Im Nachgang bin ich unglaublich stolz auf uns und das Programm, das wir nach der Neueröffnung der Halle an den Start gebracht haben mit „Deichkind“, „Calexico“ und vielen anderen großartigen Bands und Künstler:innen. Dass wir das alles hinbekommen haben und auch unsere Partner:innen und vor allem unser Publikum diese lange Pause mitgegangen sind, macht mich auch heute noch sehr happy. Hendrik: Als damals der Hallenneubau anstand, hat sich die Stadt sehr klar zum „Schlachthof“ als Kulturstandort bekannt und uns unterstützt wie nie zuvor.
Eure Arbeit im „Schlachthof“ hat sich auch nachhaltig auf das Kulturleben von Wiesbaden ausgewirkt. Wie wichtig war und ist der Standort Wiesbaden für euch?
Hendrik: Wir haben Kultur nach Wiesbaden gebracht, die so nie stattfinden würde, wenn es uns nicht gegeben hätte. Carsten: Als ich noch in Mainz gelebt habe, gab es noch mehr Läden in Wiesbaden. Mittlerweile vereint der „Schlachthof“ ziemlich viel: Konzerte, Partys, Lesungen, Kabarett und vieles mehr. Wir sind so etwas wie der kulturelle Gemischtwarenladen der Stadt. Das, was in anderen Städten in zehn verschiedenen Läden passiert, decken wir in einem mit dem „Schlachthof“ ab. Auch das ist hierzulande ziemlich einmalig und würde in einer anderen Stadt wohl so nicht funktionieren. Wir haben halt auch einen sehr großen Einzugskreis und ein sehr treues Publikum.
Bis 2015 habt ihr im „Kulturpark“ hinter der Halle das beliebte Traditionsfestival „Folklore im Garten“ veranstaltet, später dann noch weitere große Open-Air-Konzerte, dieses Jahr habt ihr euch aus dem Freiluftkonzertgeschäft zurückgezogen. Wo liegen hier die Herausforderungen? Eure Hallenshows laufen ja seit Jahren bestens und ihr seid exzellent vernetzt und könntet sicher auch in Zukunft große Bands nach Wiesbaden holen.
Dennis: Kurz gesagt: das Gelände für Konzerte vorzubereiten, also die Infrastruktur bereitzustellen, ist scheißteuer. Die Preise für Material und Personal aber auch Künstlergagen sind nach Corona explodiert. Es ist ja auch gut, dass die Leute mehr Geld verdienen, aber die Anforderungen an Open-Air-Shows kommen auf ein Level, das wir nicht mehr wirklich gut stemmen können oder möchten. Carsten: Das ist eine Gemengelage aus verschiedenen Punkten. Die schon angesprochene Authentizität möchten wir natürlich auch bei unseren Open Airs gewährleisten. Auf anderen Festivals kostet ein Bier mittlerweile acht Euro, ein Wasser fünf Euro. Bei uns in der Halle kostet ein Wasser einen Euro, bei den Open Airs mussten wir das zuletzt auf zwei Euro erhöhen. Wir möchten unseren Spirit auch hier erhalten und diese Preisentwicklungen nicht mitgehen. Auch bei der Bandauswahl achten wir sehr darauf, dass sie zum „Schlachthof“ passt. Bei unserem Open Air mit den „Beginnern“ 2018 und auch nachfolgenden Bands lief das immer alles sehr familiär ab. Wir haben aber mittlerweile gemerkt, dass man nicht nur zwei, drei Open Airs im Sommer machen kann. Wenn wir diese große Infrastruktur aufbauen, müssen das eher fünf, sechs Veranstaltungen sein, damit’s wirtschaftlich bleibt. Dann ist man schnell gezwungen, diverse andere Bands zu buchen, die nicht so wirklich zu uns passen. Diesen Kompromiss, Konzerte zu buchen, hinter denen wir nicht hundertprozentig stehen können, möchten wir nicht eingehen müssen. Dennis: Wobei wir uns auch nicht vollständig von den Open-Air-Shows verabschiedet haben, aber dieses Jahr einfach beschlossen haben, zu pausieren und uns hier neu zu sortieren.
Neben einer großen Feier mit Freund:innen und Kolleg:innen am 31. August werdet ihr anlässlich eures 30-jährigen Jubiläums ab dem 26. August auch eine Woche lang Themen, die euch beschäftigen, im „Schlachthof“ verhandeln, um sichtbar zu machen, was den „Schlachthof“ auch jenseits des Veranstaltunsgbetriebs ausmacht, und diesen Themen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Man sollte meinen, dass Nachhaltigkeit, Antidiskriminierung oder auch Gender Equality in der Veranstaltungsplanung längst Alltag sind. Dem scheint nicht so zu sein. Woran liegt das eurer Meinung nach und was muss sich ändern?
Sarah: Schau mal, wie diese Interviewrunde besetzt ist. Die Branche ist halt, wie sie ist. Und deswegen braucht es nach wie vor diese Impulse. Der „Schlachthof“ hat sich von Anbeginn an immer gegen Rassismus und Diskriminierung positioniert. Diese Themen gehören quasi zur DNA des „Schlachthofs“, deswegen ist es auch konsequent, dass die Themenwoche mit einem Vortrag über Gefahr von Rechts startet. Auch die anderen Themen, die in der Woche besprochen werden, wie Nachhaltigkeit, Awareness und „Flinta“-Themen sind zwar in der Gesellschaft angekommen, aber es braucht trotzdem noch Jahre, bis hier strukturell wirklich dauerhafte Veränderungen erkennbar sind. Natürlich sind das auch Themen, die uns intern im „Schlachthof“ beschäftigen und man kann sehen, wie sehr sich die Dinge hier bei uns über die Jahre verändert haben und auch stetig verändern. Dennis: Und auch auf unseren Konzerten versuchen wir, bei unseren Besucher:innen Aufmerksamkeit für diese Themen zu schaffen. Sei es durch Infostände, unsere Website oder die Programmhefte und Flyer. Wenn wir da Leute abholen können, ist das schon ein erster wichtiger Schritt. Carsten: Bei uns passieren oft sehr viele Sachen gleichzeitig: In der Halle spielt eine Metalband, nebendran im „Kesselhaus“ ist ein Weltmusikkonzert, draußen spielen Leute Boule und einige Kids machen einen kleinen Rave. Da kommt auf dem Platz am und im „Schlachthof“ so viel zusammen. Und das kann Leute ebenso abholen, denke ich. Das ist gelebte Diversität vor Ort, die die Leute dort mitbekommen. Und das hat auch definitiv einen positiven Effekt. Sarah: Die Kids bekommen auf jeden Fall die Werte des „Schlachthofs“ mit, wenn sie bei uns sind. Wir haben ja auch große Open Airs mit „Cro“ und anderen Acts gemacht und da erreichen wir sehr viele junge Leute. Mir ging es selbst so – ich wurde auch über den „Schlachthof“ sozialisiert. Ich denke, wir haben da eine ziemlich wichtige Rolle für die Jugendlichen in der Stadt und der Region.
Pünktlich zu eurem Geburtstag im Dezember werden treue Wegbegleiter bei euch im Schlachthof zu Gast sein, die 2024 ebenfalls ihr 30-jähriges Jubiläum feiern. Was verbindet euch mit den „Donots“?
Dennis: Das erste Konzert mit den Donots bei uns war 1999 im Vorprogramm bei den „Beatsteaks“, soweit ich mich erinnere. Dann haben sie alleine in der kleinen „Räucherkammer“ gespielt und mittlerweile spielen sie dreimal ausverkauft hintereinander in der großen Halle. Das war über die Jahre ein ziemliches Auf und Ab mit der Band, das verbindet uns sicher. Und „Donots“ und „Schlachthof“ sind sich immer treu, loyal und authentisch geblieben. Das teilen wir sicher auch.
Die Mitglieder der „Donots“ gehen stramm auf die 50 zu und die „Schlachthof“-Crew aus Anfangstagen dürfte sich in einem ähnlichen Alter befinden. Wie ist es um die nächste „Schlachthof“-Generation bestellt? Programmtechnisch müsst ihr ja auch in den nächsten 30 Jahren immer am Puls der Zeit bleiben.
Hendrik: Wir haben zum Glück keine Nachwuchsprobleme, wie viele andere Häuser. Carsten: Genau. Und wir sind mittlerweile ja auch ein Ausbildungsbetrieb. Dennis: Natürlich sollen und werden auch im Booking Leute nachrücken, aber noch sind wir in der Programmgestaltung gut aufgestellt und abgeben ist, ehrlich gesagt, auch nicht immer ganz einfach. Wir lieben einfach sehr, was wir tun!
Vielen Dank für das Gespräch.
Themenwoche im „Schlachthof“ von Mo., 26.8., bis Fr., 30.8.24
Buchtipp: Ende 2024 erscheint im Ventil Verlag der Bildband „30 Jahre Schlachthof Wiesbaden!“, der die Geschichte des „Schlachthofs“ erzählt.
Weitere Informationen findet ihr hier.
Oder in den Sozialen Netzwerken: www.facebook.com/schlachthofwiesbaden,