„Auswärtsfahrten waren nie mein Ding“

Seit 1921 ist die Gegengerade die Konstante im Stadion am Böllenfalltor.

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©SV Darmstadt 98

Sie hat Haupttribünen kommen und gehen sehen, Zusatztribünen neben sich aufgenommen, die sportliche Berg- und Talfahrt des SV 98 miterlebt, selbst den Zweiten Weltkrieg hat sie überstanden. Kurz vor ihrem Abriss hat sie mit uns über ihr bewegtes Leben gesprochen.

FRIZZmag: Liebe Gegengerade, für Ihr hohes Alter von 97 Jahren haben Sie sich äußerst gut gehalten. Wie geht es Ihnen aktuell?

Gegengerade: Vielen Dank für das Kompliment. Wissen Sie, ich will mich nicht beklagen. Hier und da bröckelt es zwar ein wenig, aber da sind andere deutlich schlimmer dran. Ich war immer viel an der frischen Luft und nie groß wetterfühlig. Diese Aspekte sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass ich dieses hohe Alter überhaupt erreicht habe.

Das fehlende Dach hat Sie nie gestört?

Wo denken Sie hin. Ich liebe es, der Sonne bis zum Schluss beim Untergehen zuzusehen. In welchem deutschen Profi-Stadion kann man das heutzutage noch? Aber auch den vielen feuchten Erfrischungen kann ich durchaus etwas Positives abgewinnen – sei es durch Regen oder Bier. Entscheidend war für mich immer, dass sich die vielen Menschen, die mich durch die fast 98 Jahre begleitet haben, bei mir wohlgefühlt haben. Ein Dach haben sich bestimmt nur die Wenigsten gewünscht.

Derzeit bieten Sie Platz für 7.500 Fans, früher sogar für deutlich mehr. Wie ist das, wenn die Menschen ständig auf einem herumtrampeln?

Das gehört in meiner Position eben mit dazu. Aber ich hätte mir keinen besseren Job wünschen können. Für mich war es immer ein tolles Gefühl, wenn wieder ein Heimspiel der Lilien bevorstand. Über die Jahre habe ich unzählige Freunde gefunden, Menschen, die mir richtig ans Herz gewachsen sind. Und ich glaube behaupten zu können, dass das umgekehrt auch der Fall ist. Wie liebevoll sich einige meiner Freunde stets zu Beginn einer neuen Saison um mich gekümmert und mich wieder etwas „in die Reih geschafft“ haben, wie man hier bei uns in Darmstadt sagt – das hat mich sehr berührt. Diese Momente bleiben hängen.

Nun sind Sie aber nicht nur für die Fans des SV Darmstadt 98 zugänglich, sondern auch...

...für die Gästefans. Ich weiß. Das Schöne ist, dass die Leute, die heutzutage nach Darmstadt kommen – egal ob Heim- oder Auswärtsfans – immer ganz begeistert von mir sind. Sie sagen, ich zaubere Ihnen den Geruch des guten alten, nicht durch kommerzialisierten Fußballs in die Nase. Wobei das ja auch nichtgerade ein Kompliment ist, wenn man mir zwischen den Zeilen zu verstehen gibt, dass ich etwas müffle. In der Regel schlägt mir sehr viel Liebe entgegen, abgesehen von den Fans zweier Vereine, die rund 30 Kilometer nördlich von hier beheimatet sind. Aber auch damit kann ich umgehen. Sie können mir glauben, ich bin schon so lange in meinem Job, da bleibe ich ganz professionell.

Was haben Sie in all den Jahren am meisten vermisst?

Ich traue es mich kaum zu sagen, aber wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich mir gerne mal eine dieser modernen Arenen angesehen.

Im Ernst?

Ja, um zu sehen, was heutzutage bautechnisch so alles möglich ist. Aber auf meine alten Tage bin ich dafür inzwischen einfach zu schwach und Auswärtsfahrten waren sowieso nie mein Ding. Ich bin lieber daheim am Bölle. Und wissen Sie, was ich besonders toll finde?

Schießen Sie los.

Wenn Sie einem Fußball-Fan in Deutschland ein Bild von mir zeigen, wird jeder sagen: Darmstadt, Böllenfalltor. Ich bin einfach unverwechselbar.

Früher war ja angeblich alles besser. Würden Sie trotzdem sagen, dass Sie die letzten Jahre nochmal in vollen Zügen genossen haben?

Auf jeden Fall. Hessenliga im ganz kleinen Kreis gegen Buchonia Flieden oder den FSV Braunfels hatte auch was, aber durch den sportlichen Höhenflug des SVD war die Hütte in den letzten Jahren ja bei fast jedem Spiel voll. Und ich habe  auf meine alten Tage nochmal die Bayern, Schalke und Dortmund gesehen, unglaublich! Zudem hat man mir auch die eine oder andere Beauty-Behandlung zuteil werden lassen. Da bin ich richtig aufgeblüht. Sitzschalen im Gästebereich, neue Wellenbrecher, eine Zugangskontrolle. Nur durch diese neumodischen Torkameras habe ich mich während der beiden jüngsten Bundesliga-Jahre etwas beobachtet gefühlt.

Haben Sie nach dem Aufstieg in die Bundesliga gezittert, ob der SV 98 überhaupt bei Ihnen spielen darf?

Da ist mir in der Tat mal kurz die eine oder andere Stufe verrutscht. Aber am Ende hat sich der Verein immer für mich stark gemacht, Auflagen der DFL erfüllt und so auch die nötigen Ausnahmegenehmigungen für den Spielbetrieb erhalten.

Sie haben in all den Jahren so viele Spiele gesehen. Was war Ihr größtes Highlight?

Der erste Aufstieg in die Bundesliga 1978 war schon etwas ganz besonders. Auch für mich änderte sich dadurch einiges. Aufgrund einer vom DFB geforderten Kapazitätserhöhung wuchs ich um weitere 36 Stufen in die Höhe und erhielt dadurch mein heute noch charakteristisches Äußeres. Plötzlich passten 30.000 Zuschauer ins Bölle, das muss man sich mal vorstellen. Wenn ich jetzt aber anfangen würde, alle meine Highlights seit 1921 aufzuzählen, würde das hier den Rahmen sprengen. Da würde das Gras anfangen, auf meinen Stufen zuwachsen.

Das Heimspiel gegen Erzgebirge Aue am 13. Mai wird nun Ihr letztes sein. Wie ist es um Ihre Gefühlswelt bestellt?

Es ist natürlich schon eine gehörige Portion Wehmut dabei, ganz klar. Was ich hier alles erleben durfte. Die Spielzeiten in der Bundesliga, packende Pokal-Fights oder auch das Benefiz-Spiel gegen den FC Bayern, als der SV Darmstadt 98 kurz vor der Insolvenz stand. Ich hatte hier am Böllenfalltor eine großartige Zeit. Ich bin aber auch keine ewig Gestrige und jetzt bereit, den Platz für eine Nachfolgerin zu räumen. Schließlich sind meine guten Kumpels Nord- und Südkurve auch schon in den wohlverdienten Tribünen-Ruhestand gegangen. Fehlen werden mir die Herren Flutlichtmasten.

Zu denen haben Sie ein ganz besonderes Verhältnis?

Da können Sie von ausgehen. Ist doch ganz klar, wenn man einen großen Teil des Weges gemeinsam gegangen ist. Ich denke, zum Abschluss werden wir gemeinsam noch ein letztes Mal „Die Sonne scheint“ anstimmen.

Das wird sicher emotional. Was wünschen Sie Ihrer Nachfolgerin? Haben Sie einen speziellen Tipp?

Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn auch meine Nachfolgerin Bundesliga-Fußball hier am Bölle zu sehen bekäme. Außerdem wünsche ich ihr viele ausverkaufte Spiele. Denn in einem halb leeren Stadion macht es auch nur halb so viel Spaß. Aber da mache ich mir keine Sorgen, ich kenne meine Jungs und Mädels von der Gegengerade inzwischen ja ziemlich gut. Da kann sie sich auf ganz tolle Menschen freuen. Mein Tipp lautet deshalb: Liege den Fans immer treu zu Füßen, dann kannst du dir bei einem ganz sicher sein - sie stehen auf dich!

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