Alles Luther, oder was?

Begegnungen mit der Reformation und großer Kunst in der Pauluskirche

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© Michael Apitz

Am 31. Oktober hat der Protestantismus Geburtstag und die Evangelische Kirche feiert 500 Jahre Martin Luther. Das ist dem Staat einen bundesweiten Ausschlaftag wert. Warum eigentlich? FRIZZmag sprach mit Hanno Wille-Boysen, Pfarrer an der Pauluskirche.

FRIZZmag: Steigen wir gleich da ein, wo‘s weh tut: Feiern die Protestanten zum Jubiläum einen Judenhasser, Frauenfeind und ideologischen Stichwortgeber für die blutige Niederschlagung von Freiheitskämpfen und Revolutionen?

Hanno Wille-Boysen: Ich fände es zwar schade, Luther auf diese Punkte zu reduzieren, immerhin gibt es ja über seine Katharina auch ganz charmante Äußerungen. Aber: Wer das Reformationsjubiläum als Lutherfest feiern wollte, müsste sich diesem Vorwurf zweifellos stellen. 

Also keine flammende Verteidigungsrede vom evangelischen Kirchenmann für den armen, missverstandenen Martin?

Nein, das fände ich auch absurd. Es gibt schließlich mehr als genug Textstellen, die genau diese Beschreibungen stützen. Und das sind ja nicht alles Fälschungen, das meiste hat er wirklich so geäußert, da muss man ja auch nichts schönreden, was nicht schön ist. Was man freilich sagen kann, ist, dass sich die schockierendsten dieser Aussagen eher beim alten Luther finden, weniger bei dem jungen aus der Anfangszeit der Reformation, an der sich ja zumindest das Jubiläum festmacht.

Also doch noch eine Relativierung durch die Hintertür. Der junge Luther ein anständiger Kerl, der alte ein Widerling?

Nein. Aber wir nehmen uns ja alle vor, mal in Würde und Anstand alt zu werden. Dafür ist Luther sicher nicht das geeignetste Vorbild. Aber das reicht natürlich noch lange nicht, um die Ausfälle und Unflätigkeiten Luthers als schlichtes Altersphänomen einzustufen. Denn es passiert ja nicht so oft, dass Menschen sich und ihre Ansichten im Alter nochmal völlig neu erfinden. Eher lässt sich feststellen, dass wir mit zunehmendem Alter immer stärker auf die Denk und Haltungsmuster zurückgreifen, die uns schon seit frühester Kindheit Sicherheit gegeben haben. Wenn man es mal wagt, diese Wahrnehmung auch auf Luther zu übertragen, dann wird man wohl davon ausgehen können oder müssen, dass es schon eine Verbindung gibt zwischen dem alten und dem jungen Luther.

Was dann zu einem der beliebtesten deutschen Sätze nach 1945 führen könnte: „Es waren ja alle so.“ Konnte man also von Luther eben nichts anderes erwarten?

Wenn man es sich nicht allzu schwer machen will, könnte man vielleicht so argumentieren. Ob es bei Luther mehr nutzt als nach 1945, weiß ich freilich nicht. Richtig ist, dass Luther, der ja schon mit Ende 20 und lange vor der Reformation Theologieprofessor war, in seinen Vorlesungen die damals verbreitete Position vertreten hat, dass das so genannte „Alte“ Testament der Bibel nur über die Aussagen und Deutungen des „Neuen“ Testamentes richtig zu verstehen wäre. Was ja dann nichts anderes heißt, als dass das Christentum quasi die Überwindung oder Richtigstellung des Judentums bedeutet.

Woraus sich dann natürlich nicht gerade eine Begegnung auf Augenhöhe ableiten lässt?

© Michael Apitz

In dieser latent abwertenden Haltung gegenüber dem jüdischen Glauben war er wohl auch vor der Reformation schon Kind seiner Zeit. Aber seine unerträglichen Ausfälle in späteren Jahren damit rechtfertigen zu wollen, wäre absurd. Zumal es ja auch in seiner Zeit schon Menschen gab, die gut ohne derartige Ressentiments auskamen. Was Luther betrifft, so war es damals auch ein bisschen wie heute: Ab einem bestimmten Bekanntheitsgrad wird eben auch jedes Wort, das man sagt, öffentlich wirksam. Und Luther war nun mal auch einer der ersten Medienstars der Geschichte. Gutenberg hatte gerade die Drucktechnik erfunden und Luther lieferte Texte, die pointiert genug waren, um die Presse umsatzträchtig am Laufen zu halten. Was das heißt, wenn da einfach filterlos alles in die Welt geschossen wird, was irgendeinem Menschen mit ausreichendem Bekanntheitsgrad gerade durch den Kopf, den Magen oder ein anderes Körperteil geht, muss man ja in diesen Tagen niemandem erklären.

Du meinst: Gut, dass es damals noch kein Twitter gab?

Ich würde es so sagen: Neben dem Thema „in Würde alt werden“ bietet Luther durchaus auch exemplarisch Stoff für das Thema „Umgang mit neuen Medien“.

Du hast ja gesagt, dass es nicht darum geht, ein Lutherfest, sondern das Reformationsjubiläum zu feiern. Ist das Ganze also eine Art Geburtstagsfest der evangelischen Kirche?

Nein, auch das nicht – dafür wäre 1517 auch einfach das falsche Datum, denn mit der Veröffentlichung der Thesen war ja nicht mal die Idee zur Gründung einer neuen Kirche verbunden, das kam alles viel später. Die Thesen sollten lediglich eine Eröffnung sein für eine inhaltliche Auseinandersetzung über ungelöste Probleme und offene Fragen der kirchlichen Praxis und Lehre. Und über Ideen, wie man in alledem zurück zum Eigentlichen kommen könnte.

Und diese Ideen sind auch 500 Jahre später noch bedeutsam?

Einigen wir uns auch da vielleicht auf ein „Manche mehr, manche weniger.“

Und welche mehr?

Zum Beispiel, dass sich der Wert geistiger Erkenntnis an der Erfahrung des Einzelnen und nicht am Habitus und dem Anspruch der sie verkündenden Institution misst. Oder dass es Unsinn ist, sich von Schuld und Scham freikaufen zu wollen oder durch eine Institution freisprechen zu lassen. Oder dass Wissen und Bildung nicht Eigen- tum einer exklusiven Elite sein dürfen, sondern jedem Menschen zugänglich sein müssen. Oder dass kein Menschen aufgrund irgendeines Amtes Anspruch auf den Besitz einer höheren Wahrheit oder einer größeren Nähe zu Gott hat. Oder auch, dass die religiöse Dimension von Leben sich in erster Linie im ganz normalen Alltag verwirklicht, in meiner Haltung zu anderen, zu mir selbst und zu dem, was mir in meinem Leben an Schönem und Bitterem widerfährt. Und schließlich auch, dass es Momente im Leben gibt, in denen man seinem Gewissen mehr vertrauen darf und muss, als irgendwelchen äußeren Zwängen.

Und du findest, das alles haben wir der Reformation zu verdanken?

Sicher nicht exklusiv. Aber ich denke, man wird schon sagen können, dass die Reformation bei der Durchsetzung dieser Gedanken eine wichtige Rolle gespielt hat. Und ich finde, dass sich viele Menschen, die all diese Positionen seitdem weiterentwickelt und auch gesellschaftlich vertreten haben, mit gutem Recht zumindest auch auf die Reformation als Wurzel berufen dürfen.

Es gab aber auch welche, die mit den Ideen der Reformation ziemliches Schindluder getrieben haben ...

Allerdings, auch da würde eine Schleife drum nichts schöner machen.

Also alles eine Frage der Sichtweise?

Innerhalb bestimmter Grenzen sicher. Und deshalb bin ich ja auch so froh, dass wir jetzt das grandiose Bild von Michael Apitz in unserer Pauluskirche haben. Denn Sichtweisen können nur entstehen, wenn man auch mal hinguckt. Apitz‘ Bild ist gerade in seiner Vieldeutigkeit eine großartige Einladung, sehr genau hinzugucken und so die eigene Sichtweise nochmal zu schärfen, vielleicht auch zu hinterfragen, und dann womöglich auch genau darüber ins Gespräch zu kommen. Das kann einerseits in ganz zufälligen Begegnungen entstehen oder man lässt sich auf die gezielten Begegnungen mit einzelnen Persönlichkeiten ein, die jeweils aus ihrer Perspektive einen Blick auf Luther, auf die Reformation, auf das Kunstwerk werfen.

Entgegen aller üblichen Erwartung wird das Reformationsjubiläum ja außerordentlich ökumenisch zelebriert, in eurem Programm erweitert sich das vor allem mit Daniel Neumann um exponierte Vertreter der jüdischen Gemeinde. Greift ihr damit Neumanns Einladung auf, euch Christen - wenn auch als Sekte - als Teil der jüdischen Gemeinde begreifen zu können?

Natürlich habe ich diesen Satz Daniel Neumanns seinerzeit im FRIZZ-Interview gelesen, und ich muss zugeben, dass er mich sehr bewegt hat. Zumal ja der Begriff „Sekte“ seinem Ursprung nach gar nichts Negatives hat. Damit lässt sich – religionsgeschichtlich wie auch theologisch – sehr gut leben. Insofern habe ich diese Aussage als ein wirklich großartiges Signal der Bereitschaft gelesen, trotz all der schrecklichen Erfahrungen, die Juden mit Christen machen mussten, das Gemeinsame und Verbindende im Blick zu behalten. Das hat mich noch einmal ermutigt, ihn in die Pauluskirche einzuladen. Dass er die Einladung angenommen hat, empfinde ich als große Ehre. Ich freue mich außerordentlich auf diese Begegnung - wie auf alle anderen auch.

© Michael Apitz

Infos zu Michael Apitz und Luther95:

Der Titel nimmt Bezug auf Luthers 95 Thesen im Jahr 1517 als Auslöser der Reformation. Entsprechend setzt Apitz sein Kunstwerk aus 95 einzelnen Tafeln mit einem Umfang von 1517 cm zusammen (398,5 cm x 360 cm). Es ist begleitet von großem Medienrummel, seit Sommer von Kirche zu Kirche unterwegs, war schon in Wiesbaden, Bad-Homburg, Mainz und Worms. In Darmstadt ist es in der Pauluskirche vom 8. bis 29. Oktober installiert, bevor es am 31.10. beim Festakt 500 Jahre Reformation in der Frankfurter Paulskirche zu sehen ist. Michael Apitz, *1965 in Eltville, Diplom-Designer, lebt im Rheingau als selbstständiger Maler und Grafiker.

© Veranstalter

Vita Hanno Wille-Boysen:

*1963 in Wiesbaden, Pfarrer und Politologe (M.A.), ist seit Februar 2012 mit halber Stelle Pfarrer in der Paulusgemeinde. Außerdem arbeitet er als freiberuflicher Berater für Organisationen und Einzelpersonen. Er mag gerne alte Autos, Segeln, die Welt erkunden und steht bei Wind und Wetter auf der Gegengerade. Hanno Wille-Boysen ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter

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