Tanners Essay Januar 2018

ENTSCHLEUNIGUNG. Aber schnell.

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Es sollten besinnliche Tage werden, die letzten Tage des Jahres; wir wollen uns nichts schenken, hatte mein Mann gesagt, er müsse etwas zur Ruhe kommen. Wieder ist es ihm nicht gelungen. „Entschleunigen“ sagt man in Deutschland. Und ist doch auf dem falschen Weg damit.

Der britische Neurologe und Autor Oliver Sachs beschrieb wie keiner zuvor die Eskapaden des menschlichen Hirns. Als junger Arzt hatte er in den Sechzigerjahren entdeckt, dass die Europäische Schlafkrankheit nicht im eigentlichen Sinne zu einer Erstarrung der Patienten führte, sondern das Parkinsonsche Zittern nur derart hoch frequentieren ließ, dass es einer Erstarrung glich, äußerlich. Stillstand durch die Beschleunigung ins Ultimo also, Tempo bis in die Entspannung, Besinnungslosigkeit bis zur Besinnung; das sollte uns doch ein Beispiel sein.

Schauen wir nach Bern, meiner Mutterstadt. Hier siehst du keine Entschleunigung, denn eine Beschleunigung hat niemals stattgefunden. Das Klischee der Schweizer Langsamkeit kann nur von hier stammen. Wir nennen es Höflichkeit. Beispielsweise ein Brot zu ordern in einer Bäckerei, das dauert im Schnitt zwanzig Minuten - wenn wir es eilig haben: „Es tut mir wirklich sehr leid und verzeihen Sie bitte, dass ich solch Aufhebens mache. Aber falls es nicht allzu große Umstände für Sie bedeutete, würde es mich freuen, im Fall, es ist grad Zeit und macht Ihnen nicht zu große Mühe, wenn Sie mir eines Ihrer Dreikornbrote verkaufen könnten.“ Und das ist nur die Eröffnung.

Schauen wir nach Zürich. Eigentlich ist er immer schnell unterwegs, der Zürcher; weniger gewandt, eher hektisch, hysterisch, aber selbst für deutsche Verhältnisse immer in einem außerordentlichen Tempo. Für den Zürcher mutete der Darmstädter Cityring wie ein Kinderkarussell an, nur dass sich auf dem Karussell Fahrrad und Lastwagen eben nicht in die Quere kommen. Zürich versucht auch einen Cityring. Bloß gelingt dieser Stadt lediglich eine Art Aneinanderreihung von TackeKnoten; in etwa so effektiv, als würde man den gesamten Berufsverkehr Darmstadts durch die Schustergasse leiten. Bei meinem letzten Besuch brauchte das Taxi von Hauptbahnhof bis auf den Zollikerberg zum Haus meines Vaters gute anderthalb Stunden - für etwa vier Kilometer Luftlinie. Der Chauffeur erzählte mir sein Leben solange und es ist gut, in Zürich einen Freund zu haben.

Mein Mann ist jetzt zumindest sprachlich soweit, wenigstens das. Unseren allabendlichen Dialog lässt er inzwischen in einem einzigen, letzten, erschöpften Laut implodieren: „Wie war dein Tag, Liebling? Hattest du Freude? War es stressig? Magst du ein Kissen für die Füße?“ - „Jau.“

Ein guter Anfang, oder nicht?

Grad hatte ich die letzte Zeile getippt, da ging ich noch zum „Stier“, dem Reformhaus hier, die Kräuterbonbons zu holen, die mein Mann so sehr mag. An der Kasse drängelte eine junge Frau von hinten, sie habe es eilig. Im Arm ein unentspanntes Baby, in der Hand den Nimm-Dir-mehr-Zeit-für-Dich-Tee.

Ich ließ sie vor.

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