Buch des Monats Juni 2020

Maßstäbe in der Welt der Bücher ...

by ,


… setzen die monatlichen Buchempfehlungen aus Darmstadt. Seit 1952 trifft sich regelmäßig eine unabhängige Jury aus Schriftstellern, Journalisten und Literaturkritikern, um aus der Vielzahl der Neuerscheinungen ein Buch besonders hervorzuheben.

Mit der Auszeichnung soll diesen Büchern zu einer größeren Verbreitung verholfen werden. Dabei fällt die Wahl nicht unbedingt auf literarische Bestseller, manches Buch wurde durch die Auszeichnung „Buch des Monats“ erst erfolgreich.


Aktuell gehören der Jury an:

Peter Benz, Michael Braun, Oliver Jungen, Hanne F. Juritz, Adrienne Schneider, Prof. Dr. Wilfried F. Schoeller, Dr. Tilman Spreckelsen, Dr. Gerhard Stadelmaier, Dr. Hajo Steinert, Wolfgang Werth. 

Begründung der Jury 


Wie eine Urgewalt, ein sprachlich-stilistischer Tsunami, bricht dieses Buch des Meisterschülers von George Grosz über seine Leser herein, auch und gerade heute noch. Dass Ulrich Becher für seine 1945 im New Yorker Exil begonnenen Erzählungen, die die eigenen Exilerfahrungen so bezwingend melancholisch wie furios satirisch zu Porträt-Parabeln über Täter, Opfer und Verwirrte verdichten, in den Vereinigten Staaten keinen Verleger fand, weshalb die kleine Sammlung erstmals nach seiner Rückkehr nach Europa in Wien (1950) erschien, lässt sich noch mit den Zeitumständen erklären.

Dass aber inmitten der staubig-realistischen, künstlerisch vor allem adretten Epoche der sogenannten Trümmerliteratur ein derart moderner, rasanter, hinreißend grotesker Tonfall, in dem sich expressionistische Seelenschau und Weimarer Emphase mit amerikanischer Lockerheit verbinden, überhaupt möglich war, kann den Atem verschlagen. Becher schreibt – universal anschlussfähig – über einsame Außenseiter in zerrissenen Gesellschaften: über die brutalen Erfahrungen des jüdischen Gelehrten Dr. Klopstock in Dachau wie im amerikanischen Exil, über die Gewissensnöte des zum „Modepsychoanalytiker der New Yorker Gesellschaft“ aufsteigenden Exilschriftstellers Hans Heinz Nachtigall oder über den traumatisierten amerikanischen Kampfpiloten Slocum, aber er tut all das mit starker Neigung ins Dialogische und einem grandios bitteren Humor, was die nah an Verzweiflung und Wahnsinn gebauten Figuren auf leichtfüßige Weise ihrer Zeit enthebt und beinahe zu unseren Zeitgenossen macht. An den „New Yorker Novellen“ ist durchaus der Einfluss von George Grosz und seinem Kreis ablesbar, vor allem jedoch zeigen sie die sprachspielerische Brillanz und ästhetische Modernität dieses produktiven, bislang aber vor allem für sein Hauptwerk „Murmeljagd“ (1969) bekannten Autors, den es unbedingt wiederzulesen gilt.

Ulrich Bechers vorbildlich neu aufgelegter „Zyklus in drei Nächten“ ist der Preistitel der Darmstädter Jury Buch des Monats für den Juni 2020. 

©Schöffling Verlag

New Yorker Novellen

Rating: 5 of 5

Ulrich Becher

Frankfurt, Schöffling-Verlag

Literatur, Gegenwartsliteratur

3. März 2020

978-3-89561-453-8

Back to topbutton