„War ́ne geile Zeit.“

Martin Schneider, Stadtkirchenpfarrer und Kultureventmanager, geht in den Ruhestand.

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©Klaus Mai

FRIZZmag: 31 Jahre Martin Schneider und Stadtkirche gehen zu Ende. In ein paar Jahren, so schreiben Sie auf der Stadtkirchenwebseite, rutscht Ihnen vielleicht raus: War ́ne geile Zeit. Was rutscht Ihnen heute raus?

Martin Schneider: Ja, es war ne schöne Zeit und es war auch ein Glück, dass ich das machen konnte. Es ist ja nicht selbstverständlich für einen Pfarrer, dass er sich mit Literatur, mit moderner zeitgenössischer Kunst und mit Jazz beschäftigen kann. Das waren einfach glückliche Umstände, und darüber bin ich froh.

Am 16.12. gibt es zu Ihrem Abschied „nur” einen ganz normalen Gottesdienst, ohne Grußworte, feierliche Entpflichtung durch die Pröpstin, Empfang mit Häppchen und Sekt und allem, was üblicherweise dazu gehört. Steckt in dieser Bescheidenheit auch ein bisschen Provokation?

Ich hoffe, dass da gar keine Provokation empfunden wird. Ich fand es passend und schön, so aufzuhören, wie ich angefangen habe. Und mit einem ganz normalen Gottesdienst ohne Chor, ohne große Einführung durch jemand anderen habe ich angefangen. Ich liebe ganz normale Gottesdienste. Gut, vielleicht wollte ich auch ein bisschen dem vorbeugen, dass man sich selbst im Rückblick zu wichtig nimmt. Und ich bin dem Kirchenvorstand sehr dankbar, dass er mir meinen Wunsch „genehmigt” hat.

Sie haben alle Größen der Gesellschaft und aus der Jazz- und Literaturszene an die Stadtkirche geholt, dabei stets einen hohen Qualitätsanspruch gefordert und eingelöst. Nach der Maxime: Suchet der Stadt Bestes?

Die Arbeit hat sich ja langsam entwickelt und dabei entwickelte sich natürlich auch ein gewisser Ehrgeiz. Ich suchte das, was Auseinandersetzungen lohnt, was spannend ist, das, was Menschen bewegt. Und da, in der Tat, war mir das Beste gerade gut genug. Also, nicht der Stadt Bestes, ich würde sagen: Suchet der Menschen Bestes. Das zieht dann auch keine Grenze zwischen Wiesbadenern oder Frankfurtern und Darmstädtern, zwischen deutsch und nicht deutsch, sondern entspricht dem Anspruch, den man als Kirche haben sollte, nicht nur den eigenen Kirchturm, sondern auch darüber hinaus zu sehen.

Der Kirchenvorstand hält sich im Gemeindebrief noch sehr bedeckt, wenns darum geht, wie es nach Ihnen weitergeht. Zunächst aber die Frage: Wie hat das eigentlich alles angefangen?

Es hat eigentlich angefangen mit der Kirchensanierung. Wir haben Ende des letzten Jahrhunderts den Chorraum völlig neu gestaltet, der Fußboden bekam einem einfachen Sandsteinbelag, das alte, nachgemachte Chorgestühl wurde entsorgt, auch das alte Positiv, das nicht mehr bespielt wurde. Dadurch erst hat sich der Chorraum in seiner ganzen architektonischen Schönheit zu erkennen gegeben, dadurch wurde er überhaupt bespielbar. Wir haben versucht, das, was sich dort an Themen schon immer zeigte, in der Ikonographie, in der Geschichte, in den Brüchen, aufzunehmen und über eine Skulpturenausstellung, damit fing es an, ins Gespräch zu kommen über die Grundfragen des Menschseins. Erst im zweiten Schritt kam die Lyrik dazu, weil ich Lyrik hinreichend spröde fand. Wir haben dann Lyriker*innen eingeladen und dazu musikalisches Widerlager. Im Laufe der Jahre wurde das sukzessive ausgeweitet auf Romane, Erzählungen, Essays, philosophische Traktate. Das ist also alles schrittweise gewachsen. Und im Grunde ging es immer darum, den Raum zu öffnen im und für den Dialog.

17 Lyrische Matinéen fehlen noch bis zur 500sten. Kommen die noch oder tritt jetzt eine Art stellenbesetzungspolitischer Kompensationseffekt ein und nach 31 Jahren kommt jetzt ausschließlich bodenständig Seelsorge?

Also, die Stelle ist jetzt ausgeschrieben, wie es weiter geht, mit wem und wann genau, das wird sich zeigen, der Kirchenvorstand hofft, dass im Frühsommer alles klar ist. Ich habe eine halbe Gemeinde- und eine halbe sog. Stadtkirchenstelle, die Gemeindestelle ist diesmal durch die Kirchenleitung zu besetzen, die Stadtkirchenstelle im Einvernehmen mit dem Dekanat. Man versucht beide wieder mit einem*r Bewerber*in zu besetzen, was ich auch für sinnvoll halte. Wie es literarisch weiter geht, weiß ich nicht, zunächst gibt es wohl eine Krimireihe, die der Kirchenvorstand gestaltet, dann wird man sehen.

Kirche als Kulturtempel, die Stadtkirche als das größte Literaturhaus in Darmstadt, regelmäßig Jazz vom Feinsten, kaum ein Promi, der nicht bei Ihnen gepredigt hätte. Wie ist ihr persönliches Verhältnis zu Literatur, Jazz und prominenten Menschen?

Es sind ja nicht nur prominente Menschen, die gepredigt haben bei mir, ich würde lieber sagen, es waren markante Menschen. Mich hat einfach interessiert, was die denken. Es ist eine Chance, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, wenn man sie formulieren lässt, was sie denken. Ich habe ja zu den Predigten alte, unseren Kulturkreis prägende Stellen vorgegeben, aus dem Vater unser, aus den zehn Geboten, aus den Gleichnissen Jesu. Was daraus entstand, fand ich ungemein bereichernd, weil das Aspekte eingetragen hat, auf die man als Pfarrer gar nicht kommen würde. Und Literatur ist für mich einer der sehr angemessenen Wege, um zu sehen, was Menschen bewegt, wie sie ticken, was ihre Träume und Ängste sind, das ist in keiner anderen Kunst so präsent. Es ist die Aufgabe der Kirche, darauf zu hören und nicht in einen fiktiven leeren Raum zu sprechen. Jazz ist eine hoch lebendige und vitale Form der Musik, eine gute Ergänzung zur klassischen protestantischen Kirchenmusik. Jazz hilft uns, neu zu hören.

Man unterstellt ja hin und wieder, Sie hätten einen riesigen Etat und könnten hoch subventioniert aus dem Vollen schöpfen. Welche Mittel hatten sie tatsächlich?

Ich hatte 7.000 Euro pro Jahr vom Dekanat, für absolut alles, vom Telefon bis zu den Druckkosten für Plakate und Flyer. In den letzten Jahren musste ich etwa 100-120.000 Euro aufbringen, dabei hatte ich immer das Glück, dass der Hauptsponsor das Publikum war. Die Einnahmen aus dem Kartenverkauf deckten 70 - 90% der reinen Veranstaltungskosten. Nicht die Personal- und Raumkosten, Kirche und Küster standen mir zur Verfügung. Den Restbetrag hab ich versucht durch Sponsoren, Kulturfördermittel und all solche Geschichten zusammenzubringen. Doch mein grundsätzlicher Ehrgeiz war, alles so weit, wie es geht, über das Publikum zu finanzieren. Subventionen sollten in andere gesellschaftliche Regionen fließen, in einer reichen Bürgergesellschaft, wie wir es sind, sollten die Bürger, das war immer mein Ehrgeiz, das, was sie an Kultur interessiert, weitmöglichst mitfinanzieren.

Sie waren mit Ihrer anderen halben Stelle Gemeindepfarrer. Wie definiert sich mitten in der Innenstadt „Gemeinde”? Es sind ja sicherlich nicht die Schäfchen, die Hochwürden beim Abendspaziergang zählt und die er huldvoll zurück grüßt?

Ich würde mal provozierend formulieren: Eine Gemeinde in diesem Sinne gibt es in der Innenstadt gar nicht mehr. Von unseren 2.500 Gemeindemitgliedern sind 800-900 zwischen 20 und 30 Jahre alt, wir haben Fluktuationen von einem Drittel pro Jahr. Das zeigt schon, dass von sozialer Vernetzung und Gemeinschaft nur noch ganz wenig da ist. Das belegen auch rückläufige Zahlen selbst bei Beerdigungen, schon seit Jahren bei den Konfirmanden, die jungen Familien ziehen weg. Deshalb haben wir unsere Stadtkirchenarbeit immer als eine Arbeit nicht nur für die vor Ort Lebenden verstanden, sondern für die gesamte Stadt.

Was werden Sie vermissen im Ruhestand?

Ich werde die Gespräche vor, nach und zwischen den Veranstaltungen und Gottesdiensten, den direkten Kontakt, vermissen. Ich habe auf eine beiläufige Art am Leben der Menschen teilhaben können und das fand ich unglaublich beglückend.

Ihr Bandscheibenvorfall jetzt ist Ihre erste massive gesundheitliche Beeinträchtigung, just zum Ende der Amtszeit. Wolfgang Ambros hat mal gesungen: Mir geht es wie dem Jesus, mir tut das Kreuz so weh. Wie geht es Ihnen mit dem Kreuz?

Im Augenblick geht es etwas besser, aber im Prinzip hat Ambros nicht unrecht. Und natürlich bin ich in einer Umbruchsituation, in der man nicht weiß, wie es weiter geht. Das ist befreiend und belastend und damit nicht ganz zufällig, dass mir jetzt das Kreuz einen Streich spielt.

Sie haben noch keine Pläne geschmiedet für die Zeit ab dem 17.12., Sie wollen alles auf sich zukommen lassen. Was sollte denn auf Sie zukommen?

Ich habe überhaupt keine Ahnung, ich bin da völlig offen und naiv und es bringt ja nichts, wenn man sich zu viele Gedanken, zu viele Sorgen macht. Was kommt, das kommt, oder wie es im Evangelium heißt: Jeder Tag hat seine Last für sich.

Einige meiner früheren Schulleiter-Kolleg*innen, die schon im Ruhestand sind, haben sehr zu leiden unter ihrem Bedeutungsverlust, womit sie so nicht gerechnet hatten. Wovor fürchten Sie sich?

Manchmal denke ich, in 15 Jahren, wenn du die denn erleben solltest, bist du 80. Das ist schon ein eigenartiges Gefühl. Man merkt halt doch, die Zeit ist begrenzt, man wird nicht nur älter, man ist jetzt alt, und das ist schon eine Herausforderung. Angst habe ich nicht davor, aber sehr wohl einen gewissen Respekt.

Und worauf vertrauen Sie?

Ich bin Pfarrer, und ich vertraue einfach darauf, dass, egal was ist, ich gehalten bin und mir nichts Wesentliches passieren wird, selbst wenn es schlimm und hart kommt.


Danke für das Gespräch und alles Gute.

martin_schneider.vita


*1953 in Marburg und aufgewachsen im, von Darmstadt aus betrachtet, »Hessischen Hinterland«. 1972 Abitur in Biedenkopf, 1972 - 1977 Studium der Evangelischen Theologie in Wuppertal und Marburg. 1978 Vikariat in Neunkirchen/Odw., 1979 - 1980 Assistent am Theologischen Seminar Friedberg, 1980 Gemeindepfarrer in Limburg. Seit 1988 Gemeindepfarrer an der Stadtkirche Darmstadt, seit 2000, neben der Gemeindearbeit, zuständig für die Kulturarbeit an der Stadtkirche. Verheiratet, drei erwachsene Kinder.
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