Im Geiste des Großherzogs

OB Jochen Partsch im FRIZZ-Interview

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FRIZZmag: 25 Jahre Wissenschaftsstadt – warum, Herr Oberbürgermeister, ist das für Darmstadt ein Grund zum Feiern? 

Jochen Partsch: Es gibt keine Stadt in unserer Größenordnung, die über 45.000 Studierende, über 30 teilweise international renommierte Wissenschaftsinstitutionen und eine große Breite an wissens- und technologiebasierten Unternehmen hat, wie unsere Stadt. Wir sind eben mehr als eine Universitätsstadt, weil wir eben auch große produzierende Industrieunternehmen beherbergen. Selbstverständlich ist das ein Grund zum Feiern. Schließlich haben wir den Titel Wissenschaftsstadt so sehr mit Leben, Projekten und Erfolgen sowie gewonnenen Preisen und weiteren Titeln gefüllt wie kaum eine andere Stadt in Deutschland in den vergangenen 25 Jahren. Einen Titel verliehen zu bekommen, ist das eine. Seinem Titel jedoch über 25 Jahre lang auf diesem Niveau gerecht zu werden, das ist das andere. Sie dürfen dabei nicht vergessen, dass nicht der Titel die Stadt Darmstadt zur Wissenschaftsstadt gemacht hat, sondern eine dynamische Wirklichkeit beschreibt. Unsere Stärke liegt in unserer Haltung, neue Wege zu gehen, genauer gesagt, geradezu neugierig zu sein, diese neuen Wege zu finden und zu gehen. Dieser Anspruch bildet seit jeher das Fundament der Wissenschaftsstadt Darmstadt und sorgt dafür, dass die Wissenschaftsstadt Darmstadt Innovationen am laufenden Band produziert. Der Titel Wissenschaftsstadt erinnert dabei jeden Tag an diese verdiente Anerkennung und ist gleichermaßen Ansporn und Antrieb, dieser Kernkompetenz auch weiterhin alle Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Initiative des damaligen OBs Peter Benz und des TU-Präsidenten Johann-Dietrich Wörner wurde ja von manch einem etwas abschätzig kommentiert. Sie sind im selben Jahr 1997 erstmalig ins Darmstädter Stadtparlament gewählt worden, wie haben Sie die Debatte seinerzeit wahrgenommen?

Jede starke und zukunftsweisende Initiative in Darmstadt wird erstmal kritisch, vielleicht sogar abschätzig kommentiert. Wenn diese Reaktion ausbliebe, wäre es für Darmstadt fast nicht normal. Aber jetzt mal ernsthaft: Ich habe diese Debatte wie jede andere auch wahrgenommen. Auf den ersten Blick ist es immer wieder auch schade und bedauerlich, aber dies scheint zum politischen Alltag zu gehören. Kommentierungen dieser Art sind jedenfalls nichts Ungewöhnliches und ich verstehe es als Auftrag an die Politik, eine noch intensivere Aufklärungskultur zu etablieren, in welcher durch Kommunikation und Transparenz Verständnis geschaffen wird. Es ist völlig nachvollziehbar, dass so manch einer mit dem Titel Wissenschaftsstadt nicht sofort etwas anfangen konnte. Oder kennen Sie alle wissenschaftlichen Einrichtungen oder wissensbasierten Unternehmen in unserer Stadt? Kennen Sie alle Fachbereiche? Kennen Sie die Anzahl unserer Hochschulen? Bei der Vielzahl an Akteuren, welche in Darmstadt vertreten sind, ist das kaum möglich und täglich kommen neue Akteure hinzu. Daher ist es durchaus nachvollziehbar, dass nicht jeder den Titel sofort passend fand.

In Darmstadt leben die Künste; Darmstadt – die Stadt im Walde, Wissenschaftsstadt, Digitalstadt, Weltkulturerbestadt. Darmstadt hat viele Gesichter, aber kein klares Profil?

Falsch. Völlig falsch. Darmstadt hat ein ganz klares Profil. Nämlich exakt das der vielen Facetten, Chancen und Gesichter. Die Wissenschaftsstadt Darmstadt verkörpert genau das: Vielfalt. Und wir sind genau damit, mit der Vielfalt an unterschiedlichen Menschen, Sichtweisen und Erfahrungen, an Wirtschaftsbranchen, an Clusterstrukturen, an Dienstleistungs- und Unternehmenslandschaften sowie innerhalb der Wissenschaften erfolgreich, wirtschaftlich dynamisch, kulturell in manchen Bereichen sogar Weltklasse und nicht zuletzt streitbar, spannend und liebenswert.


Welchen Stellenwert hat der Titel Wissenschaftsstadt” für Darmstadt heute konkret?

Der Titel Wissenschaftsstadt hat einen enorm hohen Stellenwert in der gesamten Stadtlandschaft. Dieser Titel befindet sich sozusagen auf der Metaebene über Darmstadt und fungiert in allen strategischen wie auch operativen Maßnahmen als wichtiger Türöffner und Treiber zur Schaffung neuer Strukturen, der Erweiterung und Vertiefung bereits existierender Aktionsfelder sowie der weltweiten Wahrnehmung als Wissenschaftszentrum der Frankfurt/Rhein-Main-Metropolregion.

Sollten sich Politiker bei ihren Entscheidungen mehr nach wissenschaftlichen Erkenntnissen richten?

Ja, sicher. Gerade mit Blick auf die weltweite Klimakatastrophe und deren furchtbare Konsequenzen wird erschreckend klar, wie das Missachten wissenschaftlicher Erkenntnisse zu dramatischen Prozessen führt. Politiker*innen sind in der Regel weder Wissenschaftler*innen, noch leiten sie ein Unternehmen. Unser Handlungsfeld ist weder die Forschungslandschaft allein, noch die Unternehmenslandschaft, sondern die Gesellschaft. Und dem Gemeinwohl der Gesellschaft, der hiesigen Bevölkerung in all ihren Bedürfnissen und Wünschen gerecht werden zu können, das mag wohl eine Wissenschaft für sich sein, dies zur größtmöglichen Zufriedenheit aller zu tun. Jedoch schadet es gerade im Hinblick auf die Rolle eines Politikers in einer Wissenschaftsstadt Darmstadt nicht, über ein gewisses Maß an fundiertem Wissen zu verfügen oder sich dieses anzueignen. Menschen allerdings in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen, ihnen zuzuhören und sie bestenfalls auch zu verstehen, dafür bedarf es mehr als wissenschaftlicher Erkenntnisse. Aber, nochmals: Ohne wissenschaftliche Erkenntnisse können wir keine fundierten politischen Diskussionen führen und verantwortbare Entscheidungen treffen.

Fake News, alternative Fakten, Verschwörungstheorien finden rasant Verbreitung in den sog. Sozialen Medien – wie gefährdet sind die durch die Aufklärung propagierten Grundsätze der Vernunft" und damit die Grundlage unserer demokratischen Gesellschaft?

Das ist eine sehr gute Frage, weil sie das Selbstverständnis unserer freien, persönlichen Entfaltung, unserer Demokratie und auch den Zivilisationsprozess in europäischen Städten aufgreift. Ich bin davon überzeugt, dass die von Ihnen benannten Phänomene unsere westlichen Werte in einer Art und Weise bedrohen, wie wir es seit der Herausforderung durch die beiden totalitären Systeme des Kommunismus einerseits und des Faschismus andererseits nicht mehr erlebt haben. Demokratie fängt damit an, sich auf gemeinsam als gesichert festgestellte Tatsachen beziehen zu können und darüber zu diskutieren. Wenn schon dies nicht möglich ist und noch dazu, im Übrigen häufig antisemitisch aufgeladene, Verschwörungstheorien dazu kommen, wird der demokratische Diskurs und sowohl kommunikatives Handeln wie kommunikative Vernunft zerstört.

Daher müssen wir gemeinsam alles tun, um sogenannten alternativen Fakten entgegenzuwirken und haltlosen Verschwörungstheorien den Nährboden zu entziehen: So oder so stehe ich dafür, dass man sowohl digital als auch analog die Sorgen und Ängste der Bevölkerung aufgreift, und diese in seinem politischen Handeln berücksichtigt. Durch eine stetige und kontinuierliche Aufklärung sowie die Einbindung der Bevölkerung in politische Prozesse, können wir denen entschlossen gegenüber treten, die unsere Demokratie und unser friedliches Zusammenleben gefährden wollen.


„Schlage die Trommel und fürchte dich nicht, Und küsse die Marketenderin! Das ist die ganze Wissenschaft.” - Heinrich Heines Doctrin” 1844. Was ist die Doktrin des Oberbürgermeisters einer Wissenschaftsstadt 2022?

Zur Wissenschaftsstadt Darmstadt könnten so einige Doktrinen passen. Die wohl treffendste ist bestimmt „Die Stadt der kurzen Wege“ denn in keiner Stadt in Deutschland entstehen in dieser Geschwindigkeit Innovationen und Projekte. Das Wachstum dieser Stadt ist den kurzen Wegen geschuldet. Den kurzen Dienstwegen, der engen Verzahnung und Vernetzung verschiedenster Bereiche, der hohen Dichte an Kooperationen, Unternehmen und Clusterstrukturen, aber allen voran den vielen Menschen, welche diese kurzen Entscheidungswege im Sinne einer florierenden Wissenschaft und Wirtschaft erst möglich machen. Das war jetzt eine etwas lange Erklärung. Für mich nach wie vor die genialste und treffendste Doktrin für unsere schöne Stadt ist das Wort des Großherzogs Ernst-Ludwig: „Habe Ehrfurcht vor dem Alten und Mut, das Neue frisch zu wagen.“

Vita_Jochen Partsch


Jochen Partsch, *29. April 1962 in Hammelburg, war von 2006 bis 2011  Sozialdezernent in Darmstadt.  2011 setzte er sich im zweiten Wahlgang gegen den Amtsinhaber durch, trat im Juni sein Amt als Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt an und wurde 2017 im ersten Wahlgang wiedergewählt. Zur erneuten Wiederwahl steht er nicht mehr zur Verfügung, seine Amtszeit endet somit im Juni 2023.
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