„Ich bin überzeugte Martinsviertlerin.”

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© Klaus Mai

Im Februar wählte die Stadtverordnetenversammlung vier Beigeordnete für eine (weitere) Amtszeit von sechs Jahren. Gemeinsam mit OB Jochen Partsch bilden sie den hauptamtlichen Teil des Magistrats. FRIZZmag sprach mit Baudezernentin Barbara Boczek.

FRIZZ: Guten Tag, Frau Boczek. Sie sind am 8. Juni 100 Tage im Amt, würden Sie sich über Glückwünsche heute noch genauso freuen, wie bei Ihrer Wahl am 2. Februar?

Barbara Boczek: Ja, schon.

Das kam jetzt aber doch ein bisschen zögerlich. Könnte es sein, dass seit dem Dinge passiert sind, die Ihnen die Freude ein bisschen genommen haben?

Nein, ich war mir auch am 2. Februar bzw. am 1. März, bewusst, dass es eine herausfor- dernde Aufgabe ist und dass es auch einfach viel ist. Das hat sich mehr als bestätigt, aber es ist eine schöne Aufgabe und ich nehme die Herausforderungen nach wie vor gerne an.

Also, dann sag ich noch mal herzlichen Glückwunsch und frag erstmal noch was Persönlicheres. Frankfurt ist Ihr Geburtsort, stand dort nur ihr Geburtskrankenhaus oder ... 

Genau. Meine Eltern und dann auch ich haben im Umland gewohnt. Mein Vater wollte aber, dass mein Geburtsort ein Ort ist, den man auch kennt.

Kahl am Main, dort sind Sie aufgewach- sen. Mein Vater ist in Offenbach gebo- ren und ist in den 60er mit meinen Großeltern oft schwimmen gegangen an die Kahler Seen. Kennen Sie die auch?

Jaaa, (strahlt), da hab ich Schwimmen gelernt und Schlittschuhlaufen.

Und ein Atomkraftwerk gabs dortauch schon ganz früh, oder?

Ja, das erste in Deutschland, so ein Versuchskraftwerk. Und es war auch der erste Reaktor, der wieder abgebaut wurde. Das finde ich fast noch unheimlicher, denn da hat es ja wahrscheinlich noch mal kräftig gestrahlt.

Wo haben sie Abi gemacht, ich hab gelesen irgendwo in Bayern?

Nein, in Hanau. Das war dem Kurssystem geschuldet, dass damals in Hessen einge- führt wurde. Ich war erst auf dem humanis- tischen Gymnasium in Alzenau, aber Spra- chen lernen war nicht so mein Ding. Meine Traumfächer waren Mathematik und Kunst und die gabs dort nicht als Kurskombination.

Die Hessen waren da schon fortschrittlicher. Sie haben dann 25 Jahre in Darmstadt gelebt, in welchem Viertel?

Im Martinsviertel.

Und da wohnen Sie jetzt auch wieder?

Ja. Ich bin überzeugte Martinsviertlerin.

Wie haben die Grünen Sie denn gefunden in der Schweiz?

(Lacht) Ich hab die Grünen gefunden. Weil ich ja nach wie vor gute Kontakte hatte und so etwa alle sechs Wochen nach Darmstadt gekommen bin, habe ich gehört, dass hier die Baudezernentin gegangen ist, und so weiter (lacht). 

Und im Zuge der Dezernentisierung sind Sie bei den Grünen eingetreten, ich zitiere:„ ...weil es meiner politischen Grundhaltung entspricht.“

Genau.

Entsprach es das auch schon vorher?

Ja, das entsprach schon immer meiner politischen Grundhaltung. Ich hab die letzten sechs Jahre in der Schweiz gelebt, die Schweiz ist in ihrem Verhältnis zu Europa sehr speziell, für Einwanderungsstop hat man da auch gestimmt und die antieuropäischen Tendenzen nehmen zu, das spüren gerade die Deutschen immer stärker. In der gleichen Zeit hat sich in Europa die politische Lage schockierend verändert. Der Gedanke, mich politisch aktiv zu bekennen, ist schon in dieser Zeit gereift. 

Wollten die Grünen das explizit, weil sie ein bisschen traumatisiert waren von der Vorerfahrung mit parteilos und Baudezernentin?

Ich finde es richtig, dass man in diesem Amt einer Partei angehört. Viele Baudezernent*innen sind parteilos und Baudezernent*innen rein aus fachlichen Gründen. Ich beanspruche mal für mich, fachlich sehr kompetent zu sein, finde es aber trotzdem wichtig, mich auch politisch einzuordnen und damit sichtbar zu sein. Und ich finde es wichtig, dass man eine Partei mitträgt und von ihr mitgetragen wird in so einem Amt.

Es gab mal einen bösen Spruch, der ist ein bisschen kompliziert und geht so: „Die optimale Beendigung des Planungsprozesses ist die Nichtrealisierung zum spätmöglichsten Zeitpunkt.“ Was würden sie rückblickend als erfahrene Darmstädterin und jetzt als Baudezernentin dazu sagen?

Vereinfacht heiß das ja: Wir planen lange und wir realisieren eher wenig. Dieses Gefühl hatte ich als Bürgerin auch und es ist für mich ein kleines Schreckensbild, dass ich gegen diese Gepflogenheit ankommen muss. Ich werde mein Bestes tun und hoffe, dass ich viele motivieren und mitnehmen kann, um da einen Wandel hinzubekommen.

Noch so ein Spruch: Wenn man in Darmstadt eine Schule finden will, muss man nur nach heruntergekommenen Gebäuden suchen. Ihr Kommentar?

Ich glaube, an den Schulen ist viel getan worden in den letzten Jahren.

Ich werf Ihnen jetzt ein paar Stichworte hin, mit der Bitte um Reaktionen, es muss nicht ausformuliert sein, also „oh je“ und „puuh“ geht auch, je kürzer, desto besser:

10.000 Wohnungen.

Das ist das Ziel und ich bin fest entschlossen, das zu erreichen. 

Stadion.

Das Stadion ist eine große Herausforderung, die in der Zuständigkeit des OB liegt, ich möchte nicht tauschen.

Berufsschulzentrum.

Das ist auch beim OB, das müssen wir unbedingt umsetzen. Also, Bauen insgesamt ist ja IDA (Anm. der Redaktion: Immobilienmanagement Darmstadt) und IDA ist dem OB unterstellt.

Also, das betrifft dann ja wohl auch Nordbad und Saladin-Eck. Und der Marienplatz, ist der etwa auch beim OB?

Nein, bei mir (lacht). Ich finds schade, dass dort nicht das Rathaus hingekommen ist. Jetzt werden wir dort einen Wettbewerb starten für Wohnungsbau.

Lichtwiesenbahn.

Ist in der Diskussion wg. der Haushaltseinsparungen, ich gehe aber davon aus, dass sie trotzdem umgesetzt wird.

Straßenbahn nach Roßdorf und Weiterstadt.

Das wäre ein großer Wunsch von mir, und da müssen wir gemeinsam mit dem Landkreis das Land überzeugen, um trotz des ungünstigen Kosten-Nutzen-Faktors Unterstützung zu bekommen, denn alleine kann man das nicht stemmen. Es wäre aber die richtige Maßnahme.

ICE-Halt.

Ich finde, dass der ICE-Halt notwendig ist. Ich bin ja ganz lange vom Süden hergependelt, und es ist nicht nur gefühlt furchtbar, wenn man erst nach Frankfurt und dann wieder zurück muss, das heißt auch immer eine Stunde Zeitverlust.

Alternative zur NO-Umgehung.

Das wären die von mir favorisierten Straßenbahnen in den Ostkreis. Unser Problem ist nicht mehr der Durchgangsverkehr durch Darmstadt, sondern es sind die Ein- und Auspendler.

Landesgartenschau.

Ein Thema, das durch das Haushaltsloch in der Diskussion ist, aber sie ist der Katalysator für die Aufwertung des Darmstädter Ostens.

Auch das Weltkulturerbe?

Ja. Aber nicht von unserer Seite, sondern von Opposition und Lokalpresse.

Neues Rathaus?

Schade, dass es am Marienplatz nicht klappt. Jetzt suchen wir weiter. Ein Rathausbau hat oftmals den Ruch, da wolle sich jemand ein Denkmal setzen. Wenn man sich aber mal umschaut, auf wie viele Gebäude die Verwaltung verteilt ist und in welch schlechtem Zustand diese sind, finde ich das dringend notwendig.

Nieder-Ramstädter Straße.

Viele Jahre ist in Sachen Straßensanierung wenig passiert bis nichts, viele Straßen sind deshalb in einem sehr schlechten Zu- stand. Fairerweise muss man sagen, das ist auch in anderen Städten so. Trotz Haus- haltsloch werden wir da aber jetzt vorange- hen, zur Nieder-Ramstädter Straße ist ge- rade die Magistratsvorlage zur weiteren Planung beschlossen.

Da waren ja jetzt auch ein paar Großprojekte dabei. Angesichts des aktuellen Haushaltslochs, welche werden, um Ihren Kämmerer zu zitieren „den Heldentod sterben“ und welche werden sang- und klanglos untergehen?

Sang- und klanglos wird nichts untergehen. Ich versuche die Verflechtungen und Abhängigkeiten der Projekte zu zeigen. Natürlich werden wir auch Projekte verschieben müssen.

Was wären denn Ihre stichwortartigen Schwerpunktbaustellen? Was brennt Ihnen derzeit am meisten unterden Nägeln?

Zu Beginn im März war das die Landesgartenschau, dann der Wohnungsbau, also z.B. Cambrai-Fritsch-Kaserne. Wir entwickeln gerade eine Mustervorlage für einen städtebaulichen Vertrag, damit wir auch die Quote 25% Sozialwohnungen, 20% für niedrige Einkommen erfüllen. Nächste Baustelle, wie schon angesprochen, die Straßensanierungen, neben der Nieder-Ramstädter laufen auch die Heidelberger und die Frankfurter Straße. Straßensanierung ist ja heutzutage eine hochkomplexe Aufgabe, oft durch Kanalsanierungen begleitet. Den unterschiedlichen Bedürfnissen der vielen Verkehrsteilnehmer gerecht zu werden, ist eigentlich kaum möglich, denn der Raum ist ganz eng und der Verkehr ist riesig. Jeder erwartet für sich das Optimum, es gehen aber jeweils nur kleine Verbesserungen, und das hinterlässt bei vielen eine Enttäuschung.

Nach dem, was Sie jetzt alles genannt haben, empfinden Sie die Frage, was Sie in Ihrer Freizeit machen, hoffentlich nicht als zynisch?

Meine Freizeit ist im Moment in der Tat inexistent. Ich habe in der Wohnung immer noch eine Menge unausgepackter Kisten, weil ich oft bis ganz spät auf Veranstaltungen bin, noch Unterschriftenmappen abarbeiten und mich auch noch in viele Themen einarbeiten muss.

Sie haben sich vor dem Staatstheater auf dem Büchnerplatz fotografieren lassen. Warum dort?

Weil mir die Gestaltqualität wichtig ist. Es liegt mir am Herzen zu schauen, dass die Stadträume eine ansprechende Atmosphäre und Qualität haben, der Theaterplatz ist für mich eines der gelungensten Bauprojekte im öffentlichen Raum. Er bietet viele Möglichkeiten sich aufzuhalten, sich zu treffen, und er wird ja auch sehr gut angenommen.

Der neue Friedensplatz und der neue Karolinenplatz werden ähnlich schön?

Das will ich doch hoffen. Sie sind ja schon vor meiner Zeit geplant und jetzt begonnen worden. Der Friedensplatz wird 2018 fertig.

Und was müsste darüber hinaus in den nächsten sechs Jahren passiert sein, damit Ihre Amtszeit erfolgreich war?

Wohnungsbau und Straßensanierung haben wir ja schon angesprochen, dass wir den Radverkehr sichtbar verbessert haben, dass der Umstieg auf ÖPNV und Radverkehr deutlich gelungen ist, dass die Innenstadt in ihrer Ausstrahlung und ihrem Ambiente gewonnen hat ...

... und dass trotz der Fülle der Aufgaben bis dahin die Umzugskisten ausgepackt sind.

Genau (lacht). Guter Schluss!

Nicht ganz, es gibt noch eine letzte Frage, die uns in Darmstadt natürlich besonders interessiert. In welcher Stadt könnten Sie sich noch vorstellen Baudezernentin zu sein?

Ach so, ja (lacht). Das kann ich einfach beantworten. In Bern. Aber da war ich ja schon. Und deshalb muss keiner Befürchtungen haben (lacht).

Okay. Und vielen, vielen Dank für das Interview. 

Vita: 

* 19. Februar 1960 in Frankfurt, ist in Kahl am Main aufgewachsen. Nach dem Abitur machte sie zunächst eine Tischlerlehre und studierte - mit Abstechern nach Paris und Glasgow - Architektur und Stadtplanung an der TU in Darmstadt, wo sie 2006 auch promovierte. Sie führte 15 Jahre ihr eigenes Architekturbüro „Topos“ und lebte mehr als 25 Jahre in Darmstadt. 2010 zog sie in die Schweiz und arbeitete bis 2015 als stellv. Leiterin des Berner Stadtgrünamtes, 2015 wechselte sie für ein Jahr als Leiterin der Orts- und Regionalplanung zum Kanton Bern. Am 2. Februar 2017 wurde sie vom Stadtparlament zur neuen Bau- und Planungsdezernentin gewählt, ihre Amtszeit begann am 1. März. 

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