„Darmstadt ist ein Labor in Stadtgröße.”

Professor Dr. Michael Waidner begleitet die Digitalisierung zum Wohle der Stadt.

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©Klaus Mai

Seit Juni ist Darmstadt „Digitale Stadt” und das digitale Leuchtturmprojekt Deutschlands, vielleicht sogar Europas. Als Chief Digital Officer (CDO) hat die Wissenschaftsstadt einen der renommiertesten IT-Wissenschaftler schlechthin gefunden.

FRIZZmag: Sind Sie mit den ersten Schritten der Digitalisierung nach dem Gewinn des Bitkom-Wettbewerbs „Digitale Stadt” zufrieden?

Prof. Dr. Michael Waidner: Tatsächlich war ich mit Darmstadt schon zufrieden, bevor wir den Wettbewerb gewonnen haben. Darmstadt ist ja eigentlich schon seit langem sehr digitalisiert und fängt nicht bei Null an. Es gibt und gab schon viele Projekte vorher. Ich denke, wir haben einen guten Vorschlag gemacht, haben einige Projekte angekündigt und versprochen. Jetzt sind wir auf einem guten Weg.

Bei Ihrer Ernennung zum Chief Digital Officer machten Sie klar, dass für die Digitalisierung einer Stadt sowohl Digitalenthusiasten als auch -skeptiker nötig sind. Was sind Sie, Skeptiker oder Enthusiast?

Als Wissenschaftler natürlich weder noch, weil ich rational herangehe und beide Aspekte betrachte.

Und als Privatperson?

Genauso, ich bin ja nicht schizophren (lacht). Tatsächlich bin ich als Privatperson immer noch Wissenschaftler. Aber eine Stadt kann man nur digitalisieren, wenn es aus allen Richtungen eloquente Verteidiger gibt, zwischen denen man moderieren kann.

Ist Darmstadt ein Labor in Stadtgröße?

Ja, wir sind ein Labor für die Digitalisierung einer ganzen Stadt - was übrigens eines der zentralsten Themen der Digitalisierung überhaupt ist. Wir wohnen zunehmend in Städten, und daher ballen sich hier auch die Probleme.

Die bisherigen neuen Projekte und Problemlösungen der „Digitalen Stadt” wurden eher an Darmstadt herangetragen, oder waren bereits in Planung. Welche größeren Projekte werden von der Wissenschaftsstadt in Zukunft initiiert?

Der Wettbewerb hat vielleicht den Eindruck entstehen lassen, dass es ein Outside-In-Denken gibt, das heißt: Was angeboten wird, wird genommen. Es ist aber genau umgekehrt. Wir gucken, was wir brauchen, und nehmen die Angebote an, die die Bedürfnisse der Stadt abdecken. Dafür entwickeln wir eine Strategie und bekommen für zwei Jahre vieles potenziell geschenkt. Unsere Strategie orientiert sich an Fragen der Lebensqualität. Was stört die Menschen in der Stadt? Das sind dann Sachen wie Verkehrsstatus, Parkplatzsuche oder eine lange Warteschlange auf einem Amt. Das sind Bereiche, in denen Menschen das Gefühl haben, man kann und sollte etwas für sie tun. Die arbeiten wir gerade der Reihe nach ab. Das geschieht aber nicht, weil uns beispielsweise ein großes Telekommunikationsunternehmen eine Parkplatz-App angeboten hat, sondern weil das wirklich ein Thema ist, das die Leute beschäftigt.

Der Branchenverband Bitkom hat in einer Umfrage festgestellt, dass der CDO in der deutschen Wirtschaft ein eher „unbekanntes Wesen” ist. Sie sind er erste CDO Darmstadts. Was genau ist ein CDO, und was sind Ihre Aufgaben?

Für die Stadt Darmstadt bin ich der erste, der diesen Titel trägt. Ansonsten ist es ein Konzept, das sich gerade durchsetzt. Es gibt schon lange einen städtischen Chief Information Officer, mit dem ich sehr gut zusammenarbeite. Digitalisierung geht über die Einführung von IT und deren operativer Betrieb hinaus. Digitalisierung heißt auch, Kosten und Nutzen zu betrachten, Risikoanalysen zu machen und zu schauen, welche neuen Geschäftsmodelle es gibt. Als CDO begleite ich die Digitalisierung zum Wohle der Stadt, der Bürger und der Wirtschaft. Ich bin CDO im Ehrenamt, im Hauptberuf bin ich Professor an der TU-Darmstadt und leite das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT. Hier arbeiten viele Experten, die sich mit der Digitalisierung der Stadt beschäftigen. Die Wissenschaftsstadt hat kürzlich eine GmbH gegründet und wird verschiedene Gremien berufen, die die Aufgaben des CDOs unterstützen. Es liegt also nicht nur auf meinen Schultern.

Was kommt in den nächsten zwei Jahren noch auf die Darmstädter*innen zu? Worauf können sie sich besonders freuen?

Die Bürger*innen können sich darauf freuen, dass ihr Leben einfach besser wird. Das bedeutet beispielsweise, den Verkehr zu verbessern. Ganz generell gesprochen: Es gibt knappe Ressourcen in einer Stadt und diese müssen möglichst optimal eingesetzt werden. Digitalisierung kann dabei helfen, dass eine Stadt wie Darmstadt Geld sparen kann und gleichzeitig effizienter wird, wenn dadurch zum Beispiel die Mitarbeiter der Stadt ihre Aufgaben effizienter erfüllen können. Das trifft auf alle Bereiche zu, die Stadtverwaltung ist nur einer davon. Im Einzelhandel kann man zum Beispiel über Digitalisierung neue ortsbezogene Geschäftsmodelle entwickeln, so dass die Innenstadt wieder attraktiver wird, nicht alles bei Online-Händlern gekauft wird, sondern man Produkte lokal wählt und sich liefern lässt.

Auf welche Projekte freuen Sie sich?

(lacht) Ich freue mich über die gleichen Projekte wie jeder andere auch, an Tagen wie heute besonders über die Verkehrsverflüssigung. Auf ein paar Sachen freue ich mich auch einfach so. Das Fraunhofer SIT betreibt Cybersicherheitsfoschung und wir haben Projekte wie die „Volksverschlüsselung”, die sich an die Bürger*innen direkt richtet. Wenn man es in Darmstadt hinbekommen könnte, dass 80% der Leute - anstatt bundesweit 20% - ihre E-Mails und Chats verschlüsseln, wäre das ein grandioser Erfolg für das Institut und für CRISP (Center for Research in Security and Privacy).

Sie veröffentlichten Papiere zur Industrie 4.0. Was versteht man darunter?

Damit ist die Weiterentwicklung und die Digitalisierung in der Industrie gemeint. Die Industrie wird massiv vernetzt - vom Entwurf eines Produktes bis zur Produktion. Die Idee ist, dass man so Ressourcen besser einsetzen kann, und man wirklich die kundenspezifische Produktion hinbekommt. Also das sogenannte „Serie Null”-Produkt. Das heißt, wenn wir beide einen Turnschuh kaufen wollen, dann können wir den individuell gestalten, dass jeder bis zur genauen Zehengröße den passenden Turnschuh bekommt.

Es geht immer um die Lebensverbesserung durch Digitalisierung. Was, wenn jemand gar kein digitaler Mensch oder gar der gläserne Mensch werden möchte?

Digitalisierung bedeutet nicht, dass alles und jeder digitalisiert und schon gar nicht gläsern wird. Das ist genau ja eines der Ziele. In Darmstadt ist Partizipation wichtig, die Bürger*innen werden einbezogen und niemand wird gezwungen, irgendetwas zu tun. Wenn jemand kein Mobiltelefon haben möchte, ist das völlig okay. Trotzdem werden selbst die „Digitalverweigerer” von der Digitalisierung der Infrastruktur, der Verwaltung und des Handels profitieren. Wer gerne Dinge ausprobiert, wird in Darmstadt Angebote bekommen, die es sonst vielleicht nirgends gibt.

Sie arbeiten im Feld der Cybersicherheit und machen sich immer wieder für Privatheit stark. Haben Sie noch ein paar Tipps und Tricks für Bürger*innen?

Ich habe die gleichen Tipps und Tricks, die jeder vernünftige Mensch geben kann. Digitale Privatheit setzt Cybersicherheit voraus. Da kann ich nur jedem raten, die gängigen Empfehlungen ernst zu nehmen. Man sollte Backups haben, sollte IT-Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, sollte etwa Virenscanner nutzen und vorsichtig sein bei verdächtigen E-Mails. Zur Privatheit kann ich nur sagen, man soll rational handeln und sich der Folgen bewusst sein. Was man auf Social Media-Plattformen postet, wird für Ewigkeiten im Netz bleiben und kann später missinterpretiert werden.

Mir ist aufgefallen, dass man Sie nicht so wirklich im Social Media-Bereich antreffen kann. Warum ist das so? Wissen Sie da etwas, das die meisten Bürger*innen nicht wissen?

(lacht) Ich bin einfach vorsichtig und bevorzuge tatsächlich solche Diskussionen und Gespräche, wie wir gerade eins haben. Das ist eigentlich alles.

Na dann, vielen Dank für Ihre Zeit und für dieses analoge Gespräch.

Vita Michael Waidner:

*1961, studierte nach dem Abitur an der Universität Karlsruhe (heutiges KIT) und promovierte dort 1991 in Informatik. In den folgenden 19 Jahren arbeitete er bei IBM, unter anderem als Leiter der Sicherheitsforschung am IBM Zurich Research Laboratory in der Schweiz und als Chief Technology Officer für IT-Sicherheit der IBM Corp. in New York. Seit 2010 ist er Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für Sichere Informationstechnologie (SIT) und hat eine Professur für Informatik (Cybersicherheit) an der TU Darmstadt. 2014 verfasste er eine Stellungnahme für den Bundestag angesichts des NSA-Überwachungsskandals und ist seit 2015 Sprecher des Center for Research in Security and Privacy (CRISP). Seit 2017 profitiert auch die Wissenschaftsstadt Darmstadt von seiner Expertise als erster Chief Digital Officer der Stadt.

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