„Weniger Blech und mehr Leben”

Radentscheid. Ein Paradebeispiel für direkte Demokratie?

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© Klaus Mai

Der Radentscheid Darmstadt hat Ende April die erste formale Hürde geschafft. Wir trafen die drei Initiatoren, um sie zu fragen, wie ihre Zukunftsvision von Darmstadt als Radstadt aussieht und wie es mit dem Bürgerentscheid konkret weitergeht.

FRIZZmag: Die Unterschriften sind gesammelt, was passiert jetzt?

David Grünewald: Wir wollen, dass spätestens im Juni die Zulässigkeit festgestellt wird. Dann rechnen wir mit dem Bürgerentscheid parallel zur Hessischen Landtagswahl am 28. Oktober. Das Stadtparlament könnte den Radentscheid auch selbst beschließen, aber wir rechnen nicht damit, dass sich dafür eine Mehrheit findet.

Gerson Reschke: Wir warten jetzt nicht, bis die Stimmen ausgezählt sind und die Zulässigkeit geprüft ist. Wir machen unsere Aktionen weiter, um die Aufmerksamkeit auf das Thema zu halten. Es geht um mehr als ein paar tausend Unterschriften.

Also werdet ihr als Radentscheid auch Wahlkampf machen?

Sabine Crook: Wir werden nichts für eine Partei machen. Wir werden natürlich dafür werben, dass die Leute zur Landtagswahl gehen, wenn der Radentscheid auch stattfindet.

DG: Ich denke, wir werden alle Landtagskandidat*innen zu Podien einladen und Wahlprüfsteine versenden. Außerdem erwarten wir von jedem ein ganz klares Ja oder Nein. So wie jeder Bürger nur Ja oder Nein ankreuzen kann. Und es kann sein, dass wir Empfehlungen ausgeben, je- manden nicht zu wählen.

Kommt der Radentscheid nicht der grünen Stadtpolitik entgegen?

DG: Wenn man das Programm der Grünen liest, ja. Aber wir lassen uns nicht vor einen Parteikarren spannen. Wir sind eine unabhängige Organisation, die für die Sache streitet, aber keine weiteren Interessen verfolgt.

Ist der Radentscheid die Rückeroberung der Straßen durch die Bürger, die Vertreibung des Autos?

GR: Viele Leute verstehen unsere Initiative als Kampf gegen das Auto, doch das ist es nicht. Es ist ein Kampf für das Fahrrad und die Fußgänger, dafür, dass etwas Platz an sie zurückgegeben wird.

SC: Autos stehen 23 Stunden rum und nehmen mindestens acht Quadratmeterein. Stattdessen könnte man auch ein paar mehr Bäume pflanzen oder Bänke hinstellen ...

DG: ... auf die sich dann auch gerne jemand setzt, weil der Lärm weg ist. Ich war in Groningen, in den Niederlanden, da hörst du gar nichts von der Rushhour. Das hat mich extrem fasziniert. Die Leute wirkten glücklich, keiner hatte da jetzt irgendwie Probleme, seinen Arbeitsplatz zu erreichen. Hier klagen viele darüber, dass sie sich im Stau wiederfinden. Mit dem Fahrrad stand ich eigentlich noch nie im Stau.

Warum redet ihr so gern über die Niederlande?

DG: In den Niederlanden sah es nach dem Krieg genau so aus wie in Deutschland, es wurde genau so autoverrückt umgestaltet. Es gibt Bilder aus Amsterdam, da führen Stadtautobahnen durch historische Viertel. Nur war es dort so, dass die Schüler*innen in der Regel mit dem Fahrrad zur Schule gefahren sind. Auf Dauer sind sehr viele Kinder zu Tode gekommen. Daraufhin gab es durch Elternbeiräte die landesweite Kampagne Stop de Kindermoord. Sie hat dazu geführt, dass die Verkehrsplaner etwas tun mussten. Daraufhin wurde die getrennte Spurenführung entwickelt und landesweit umgesetzt. Die Unfallzahlen für alle Verkehrsteilnehmer sanken, beim Fuß- und Radverkehr knickten sie jedoch viel stärker ab. Die Menschen in den Niederlanden fahren Rad nicht, weil sie alle so öko sind, sondern einfach, weil es ihnen angeboten wird. Du triffst da gar keine Fahrradfahrer. Du triffst Ärzte, die zur Praxis fahren, Krankenschwestern, die zur Schicht fahren und Lehrer*innen und Schüler*innen, die zur Schule fahren.

Liegt das wirklich nur an der Verkehrsplanung oder auch am Mindset der Bürger? Deutschland ist immer noch Autoland, oder?

SC: Das wird noch eine Weile dauern und das Auto gehört auch dazu. Aber wenn jeder Spaß hat an der Bewegung, ob zu Fuß oder auf dem Rad, und niemand zugeparkt wird, dann wird auch die Autonutzung zurückgehen.

GR: Bei den unter 30-Jährigen verliert das Auto als Statussymbol und auch als Alltagsgegenstand an Bedeutung. Die Entwicklung würde wahrscheinlich schneller gehen, wenn es Alternativangebote gäbe.

DG: Der Modalsplit ändert sich, in Darmstadt von 14% auf 17% Radfahrer. Das ist nicht so, weil in der Wilhelminenstraße ein grünes Kästchen auf die Straße gemalt wurde, sondern weil die Leute es für richtig halten. Darmstadt ist in den Top 20 der teuersten Städten Deutschlands, wer sich da noch ein Auto leisten kann und den Garagenplatz oben drauf, der muss schon Doppelverdiener sein. Viele wollen ihr Geld doch lieber im Café ausgeben und nicht an Tankstellen.

David, Du forderst einen schlankeren Planungsprozess, also auch einfach mal was auszuprobieren. Das macht die Stadt seit Ende März in der Rheinstraße. Mit Erfolg?

DG: Man hätte die wenigen Parkplätze eliminieren und die bauliche Trennung, die momentan verwendet wird, um 50 cm Totraum zwischen Straßenbahngleis und Kfz-Fahrspur auszugleichen, einfach auf die andere Seite schieben können. Dann hätten wir schon die baulich getrennte Radspur, auf der man sich sicher bewegen könnte. Auf dem Gehweg könnten die Fußgänger endlich wieder vor den Schaufenstern verweilen. Was jetzt passiert ist, befriedigt niemanden, der dort unterwegs ist. Die Stadt will den Autoverkehr reduzieren und schmeißt den Radfahrer als Pufferraum dazwischen. Das ist wohl die unmenschlichste Art miteinander umzugehen.

SC: Es ist einfach gefährlich. Direkt an den Autotüren entlang und links davon wird man supereng überholt. Es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis was passiert.

Das Baudezernat meint, man muss auch Kompromisse machen.

GR: Bei Entscheidungen, für wen die Fahrspur verbreitert oder verengt wird, steht auf Seiten der Fahrradfahrer die Sicherheit und auf Seiten der Autofahrer der Komfort. Die Frage sollte eigentlich klar zu beantworten sein.

DG: Einen Kompromiss bei der Sicherheit mache ich nicht. Die Radwege sind kein Selbstzweck, sondern müssen Schutz bieten.Schutz vor wem?Vor dem Kraftverkehr. Es kann nicht sein, dass der Verkehr von 2018 mit den Infrastrukturen von 1960 und den Regeln von 1950 funktioniert. Wir brauchen ein Update.

Nebeneffekt des Radentscheides soll sein, dass die Lebensqualität steigt. Wie das?

SC: Schon alleine die Luftqualität wird besser. Jeder Radfahrer ersetzt ein Auto, d.h. weniger Stau und mehr Parkplätze für die verbliebenen Autos. Genau so ist das mit dem Lärm. Lebensqualität merkst du gerade hier (das Interview fand im Café 221qm an der Alexanderstraße statt; Anm. d. Red.). Hier fahren vier Radfahrer vorbei und du hörst nichts, jetzt fahren vier Auto und wir können uns nicht mehr unterhalten.

DG: Das persönliche Leben verbessert sich auch. Menschen, die sich bewegen, werden deutlichwenigerkrankundlebennichtnur länger, sondern auch besser. Ich kenne viele Leute, die gerne so ein Lastenrad fahren würden. Aber wenn ich in meinem Wohnviertel bin, bekomme ich es am Straßenrand gar nicht abgestellt, alles ist voller Autos. Wenn der Autobesitz zurück geht, geht auch der Bedarf an Parkplätzen zurück, und auf dem Platz könnten auch Spielgeräte aufgestellt oder etwas gepflanzt werden.

Ihr habt sieben Ziele zur Verkehrssicherheit aufgestellt. Dardurch verändert sich auch das Stadtbild. Wie sieht Darmstadt nach drei Jahren Radentscheid aus?

GR: Die Fantasie geht zeitlich eher noch weiter.

DG: Wenn die Bindungsfrist endet, läuft der Radentscheid ja nicht aus. Die Stadtverordnetenversammlung müsste den Radentscheid aktiv aufheben. Trotzdem mal plakativ gesprochen: Darmstadt ist 10 km lang und 5 km breit. Nach drei Jahren sollte es eine durchgängige Fahrraddurchfahrung von Norden nach Süden und von Westen nach Osten geben. Dardurch erschließt sich fast die ganze Stadt

GR: Um nochmal auf das Stadtbild zurück zukommen: weniger Stau, obwohl weniger Platz für Autofahrer da ist...

SC: ... mehr Fußgänger mehr Fahrradfahrer, eine leisere Stadt. Und die Luft ...

GR: ... keine Überschreitung der Grenzwerte mehr ...

DG: Weniger Blech und mehr Leben!

Danke für das Gespräch!

www.radentscheid-darmstadt.de

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