Kuscheln unter Papiertigern

Screwball-Boulevard, Nouvelle Vague und Tarantino an der Enz: „Alles was Sie wollen“ (seit 8.11.) erzählt am Theater Pforzheim vom Fluch und Segen künstlerischer Kreativität. FRIZZmag hat sich Swentja Krumscheidts Inszenierung für seine Serie „THEATERcross-border“ angesehen.

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© Sabine Haymann

© Sabine Haymann

Bisher rang ein anarchisches Privatleben Lucie den Stoff für starke Theaterstücke ab. Jetzt hat sie die Durchreiche zum privaten Spießer-Glück gefunden. Was fehlt, ist die Inspiration fürs Schreiben. Der Premierentermin steht, aber auf der Pforzheimer Podium-Bühne sieht man in Form leerer, auf dem Boden verstreuter Papierbögen erst einmal die Schattenseitenseiten des Publikationsdrucks. Die Frau kann eben nur beschreiben, was sie durchleidet, für den Moment also: nichts. Erst als ihr Nachbar Thomas sich vom nüchternen Steuerberater zum einfühlsamen Ideengeber mausert und statt kalter Pizza französische Genüsse auf den Tisch kommen, strahlt diese Symbiose aus gelebter Gefühls- und imaginierter Textwelt warmherzig in die Zuschauerreihen hinein. Nach rund zwei Stunden hat sich dieses ungleiche Paar über eine erdachte Beziehungskrise der Autorin zu ihrem Ehemann zum Inhalt eines neuen Bühnenstücks vorgerobbt, aber man siezt sich noch so distanziert wie bei der ersten Begegnung. Ja, diese Nähe kann verstörend einsam machen. Aber dass Schreibblockaden neue Türen öffnen, das muss nach diesem Theaterabend festgehalten werden.

Der Kreisverkehr ist ja die Tragik aller besseren Tragödien: Nach Seelenstriptease und künstlerischem Burnout wird es am Ende auch hier nur wieder das zwischenmenschliche Vakuum sein, das die Triebfeder für zukünftige, feingeistige Gestaltungskräfte spannt. Ein desillusionierendes Resümee unter einer sanft überdrehten Screwball-Komödie, die klugerweise dem zwischenmenschlichen Dialog-Gewitter nicht in jeder Szene Zucker geben muss. Das große Fremdeln mögen sich Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière noch von der Rohheit des Nouvelle-Vague-Kinos abgekuckt haben, an der Unbehaustheit des Menschen in einer fragmentierten französischen Gesellschaft arbeitet sich das Autorenduo hingegen derzeit exklusiv ab. Enthemmte Rassemblement-National-Anhänger, sektiererische Macron-Jünger und leicht entflammbare Gelbwesten-Träger, sie alle sind in diesem Unterhaltungstheater zwar nie zu sehen, haben den ideologischen Boden für das zu Sehende aber mitbestellt und werden im zerstörerischen Subtext stets erfahrbar.

Die Textbausteine von „Alles was Sie wollen“ liefern eben nur vordergründig den Boulevard-Grundstoff aus Depression, Tröstung und unerhörten Lieb- und Triebschaften. Hinter den etwas holzschnittartigen Wendungen und expressiven Figurenzeichnungen verbergen sich in Wahrheit natürlich große, herzzerreißende Existenzialisten-Dramen fürs kleine Kammerspiel. Um die freizuschaufeln, hat Regisseurin Swentja Krumscheidt ihre Bühnen- und Kostümbildnerin Kathlina Anna Reinhardt zum Großreinemachen verdonnert. Statt gepflegter Pariser Innenstadtparks überblicken die beiden Protagonisten hier nur die Tristesse eines löchrigen Hamsterkäfigs im XXL-Format spiegelbildlich zur eigenen inneren Leere. Ein Aufzugsschacht aus glänzendem Metall ragt inmitten der Bühne in die Höhe, „Blabla“ steht in neonweißer Leuchtschrift darüber. Bedeutende Worte sind der dysfunktionalen Lucie in ihrem funktionalen Loft tatsächlich nicht abzuringen, dafür werden später die kahlen Holzwände zu eindrucksvollen Projektionsflächen ihrer neu angestachelten Fantasie, wenn versatzstückartige Videoeinspielungen die Schreibhemmung ausblenden und dafür die Phantasmagorien zum Tanzen bringen. In dem Spannungsfeld aus Hyper- und Surrealismus, Hitchcock-Suspense und wilden Crossover-Samples im Stil der frühen Beastie Boys wird die eisige Wohnbox flugs zum abstrakten Gedankenraum, der auch dem freigeistigen Publikum die Sinne schärft, wenn die ausgebrannte Autorin und der Witwer Thomas darin zu Marionetten ihres eigenen Kopfkinos werden, das beständig torkelnd und keck fabulierend mit Inhalten befüllt werden muss.

Die übergelaufene Badewanne stiftet eine Bekanntschaft, die diesem Nachbarschaftskrimi den Thrill verleiht.

Michaela Fent gibt eine auch in der Schaffenskrise abgewichste Lucie, die der Kunst alles unterordnet und sämtliche Facetten bespielt, von kratzbürstig-arrogant bis emotional-kokett. Als Thomas ihr vorschlägt, ihren Mann eine Affäre mit einem anderen vorzugaukeln, um die künstlerische Kreativität anzuwerfen, willigt sie kaltblütig ein. Lars Fabian muss sich als Thomas erst gar nicht entscheiden, ob er nun als witziger Kumpeltyp, einfallsreicher Mutmacher oder als verletzlicher Liebender durchgehen will - schon weil das Anforderungsprofil der beiden Autoren an ihren Schmerzensmann viel fluider daherkommt als das stringente Regiekonzept an der Enz. Dort darf er als alleinerziehender Vater den frühen Tod seiner Frau gleich weniger sensibel durchleiden als in der Vorlage, Krumscheidt gönnt ihm einen fulminanten Kaltstart zurück ins Leben. Ein kohärentes Liebesglück will aus der zweckgebundenen Arbeitsgemeinschaft freilich nicht erwachsen. Es ist dann mehr ein Kuscheln unter Papiertigern.

Die übergelaufene Badewanne samt tropfnasser Decke stiftet eine Bekanntschaft, die diesem Nachbarschaftskrimi über weite Strecken einen Thrill verleiht, der durch Lucies gesteigerte Erfindungslust bis auf die reale Existenz beider durchschlägt. Wo sich Dichtung und Wahrheit vereinen, Kunstproduktion und Lebenswirklichkeit wechselseitig befeuern, stellt dieses Theater zwar die Frage, ob es erlaubt ist, die Persönlichkeitsrechte in zwischenmenschlichen Beziehungen zu verletzen, um jemanden aus einer privaten Notlage herauszuführen. Geheilt werden die Lebensblockaden dann aber meist mit den cineastischen Mitteln eines Claude Sautet und Alain Resnais, den Altmeistern der französischen Gesellschaftskomödie. Das wirkt kein bisschen verstörend, bestenfalls konsequent. Denn wer sich so lange textsicher und parodistisch am französischen Kulturkanon entlanghangelte wie die beiden Theater-Erneuerer de La Patellière und Delaporte, denen sieht man am Ende gerne nach, wenn ihr Mäandern zwischen frivoler Chanson-Attitüde und selbstrevisionistischer Künstler-Pose eben auch nur ein kleines Bühnen-Finale mit großen Tarantino-Gesten befeuert.

.Das Stück "Alles was Sie wollen" steht seit Herbst 2019 auf dem Spielplan des Theaters Pforzheim. Aufführungen sind derzeit bis 31. Dezember terminiert. Weitere Infos und Tickets über das Gesamtprogramm der Spielzeit 2019/20 hält das Internet unter www.theater-pforzheim.de bereit.

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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