Antisemitismus zwischen allen Stühlen

„Andorra“ von Max Frisch ist seit Jahrzehnten Pflichtlektüre im Deutschunterricht. Ab Ende Januar ist das Modellstück zum Thema Ausgrenzung in einer entkernten Inszenierung von Johannes von Matuschka im Kieler Schauspiel als Wiederaufnahme zu sehen. Die FRIZZmag-Serie "THEATERcross-border" liefert einen Vorgeschmack.

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© Olaf Struck

Statt einer Dorfkulisse hat Christoph Rufer ein schlichtes Podest auf die Bühne gebaut, mit ein Dutzend Stühlen darauf. Diese „Bretterlbühne“ habe ihn ein „bisschen an Brecht“ erinnert, sagt Johannes von Matuschka, der Regisseur. Sozialistisches Umerziehungstheater mit Sprache als Waffe? Die Bühne ermöglicht jedenfalls schnelle Schnitte und wendige Szenen. Außerdem erinnert der Raum an das Ausgestelltsein im Gerichtssaal. Der Schauplatz soll aber weder Brecht noch Kleist bebildern, auf dem Kieler Spielplan steht Frischs „Andorra“, die Mutter des zeitgenössischen Entwicklungsdramas sozusagen. Ein Gleichnis über die Wirkungsweisen und Auswirkungen von Rassismus, Manipulation und Mitläufertum. Legionen von Schulklassen haben sich seit 1961 mit Interpretationen an dieser Antisemitismus-Parabel  abgearbeitet. Ein Lehrstück im besten Wortsinn also. In der kargen Kieler Ausstattung sieht man, wie der Präsentierteller sich zum Pranger wandelt und die Perfiderie offenbart. Wie sich die Leute abarbeiten an diesen Andri, dem vermeintlichen Juden. Wie sie ihn zum Sündenbock erklären, um die eigenen Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren.

In diesem fiktiven Theaterstaat ergießt sich der Strom rechter Floskeln. Andorra wird von einer Stammtisch-Mixtur aus Ohnmacht, Selbstrechtfertigung und Anklage heimgesucht, hat sich in ein Sammelbecken von lauten Wutbürgern verwandelt. Gleich von Beginn der Aufführung an lässt von Matuschka sie orchestrieren. „Ich bin nicht schuld, dass es dazu gekommen ist“, hört man Vereinzelte raunen. Dann übernehmen eine anschwellende Anti-Stimmung und Hate-Speech die Regie. Wo Frisch sein Destillat aus Erklärungsversuchen und feinsinnigen Zeugenaussagen zwischen seine zwölf Bilder geschaltet hat, lässt man an der Förde den Mob skandieren. Wo die Lautstärke regiert, bleibt die Differenzierung gerne mal auf der Strecke. Dass die Saat allen Judenhasses bei Frisch bereits in der subtilen Familientragödie aufgeht und nicht im Parolen-Gewitter der Straße, das kann man an der Ostsee erst später erahnen.

In Kiel werden Frischs Figuren zu AfD-Abziehbildern in einer Nummernrevue.

Es ist ja ein Theater, das mit einer einfachen Geschichte an die Einsicht der Zuschauer appelliert. Andri wird von seinem Vater (Imanuel Humm) als Judenkind ausgegeben. Er habe es vor „den Schwarzen“ gerettet, einem benachbarten Volk, das Juden als Feinde betrachtet und tötet. In Wirklichkeit aber ist Andri tatsächlich sein Sohn, die Judengeschichte erfunden. Andri aber hat sich zwanzig Jahre lang die Zuschreibungen der anderen auf den Leib und in die Seele gerieben. Jetzt hat er den Juden verinnerlicht. Jasper Diedrichsen hat sich einen postpubertären und liebesverwirrten Andri auf die schmalen Schultern geladen. Mit dem Vater wird er hadern, das Leben aber wie ein Poetry-Slammer mit kitschigen Poemen umarmen. Dem Hypersensiblen steht die Drangsal wie ein Stigma auf der Stirn geschrieben - und so darf sich die Ausgrenzung archetypisch an ihm wie auf einem Versuchskörper austoben: gewaltgetrieben wie beim Soldaten, von Zuneigung bemäntelt wie beim Pater oder so hinterfotzig wie beim Doktor. Marko Gebbert und Marius Borghoff führen diese und weitere Frisch-Zombies als AfD-Abziehbilder wie in einem Figurenkabarett vor. Als rasante Nummernrevue vermag dieses clevere Personen-Karussell um Macht und ihre Abhängigkeiten mächtig Fahrt aufnehmen, als psychologischer Erklärungsversuch dreht es sich tatsächlich nur im Kreis.

Die eindringlichsten Momente zeigt uns dieses Schauspiel ausgerechnet als Vexierspiel. Die Klischees dürfen schweigen, dafür steigt hinter dem Podest eine Spiegelwand in den Schnürboden empor. Als Zerrbild spiegelt sich Andri darin wider, den wir in seiner fremdbestimmten Metamorphose zum Vorzeige-Juden zusehen dürfen. Aus dem fantasiebegabten Träumer ist die Karikatur eines Juden erwachsen, ein wütender Derwisch mit den Insignien seiner einstigen Peiniger: den Mantel des Paters, dem Hut des Gesellen und Jemandes Bart. Es ist ein zynisches Bild, wenn Andri sie alle wie Entartete vor den Spiegel zerrt und ihnen ihre Deformationen vorführt. Wenn in umgekehrter Richtung eintritt, was die Gesellschaft an Andri durchdekliniert hat, dann müssen wir unweigerlich an Fassbinders „Katzelmacher“ denken, wo die kollektive Stilisierung des Fremden als Bedrohung ebenfalls in Fremdenhass und Gewalt mündet: Nach unten treten geht immer!

Auch Frischs Figuren sind die Verworfenen einer kaputten Seelenlandschaft, die plötzlich jemanden finden, an dem sie ihren Hass und ihre Frustration loswerden können - und dabei den Blick in einen beklemmenden Denkkosmos freigeben. Dies zielt nun freilich in alle Richtungen des politischen Spektrums.

www.theater-kiel.de

Die nächsten Vorstellungen sind am 24. Januar und 13. Februar.

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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