Lügenbaron im Cyberspace

Bei den Bad Hersfelder Festspielen hat man nach der Intendanz Wedel mit Ibsens „Peer Gynt“ (bis 1.9.) die Segel in Richtung Digitalisierung und Selbstoptimierung gesetzt. Robert Schusters hippe Inszenierung surft auf der Welle des Zeitgeistes, obwohl sie gar keine Modetrends bedient. Die FRIZZmag-Serie "THEATERcross-border" kann von zeitgenössischem Sommertheater berichten.

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© Bad Hersfelder Festspiele / K. Lefebvre

Weil er sich zu Höherem berufen fühlt, verlässt Peer Gynt die dunkle norwegische Dorfgemeinschaft und macht den Sonnengruß. Nach dem Hochzeitsgelage und dem Raub der Braut, führt es ihn in die Gegenwelt der Trolle, wo er ein Kind zeugt und als komischer Eremit Lügenmärchen spinnt, die ihn raustragen werden bis nach Afrika - und am Ende nur desillusioniert stranden lassen im Nirgendwo. Ein bisschen verwundert es schon, dass ausgerechnet ein abgehangenes Episodendrama über eine irrlichtende Selbstfindung ein Revival auf den Spielplänen der Theater feiert, wo im Kulturbetrieb derzeit allerorten Entfremdung und Kontemplation angesagt ist. Schriftsteller und Musiker verlassen ihr urbanes Umfeld, um in abgelegen Hütten und unbewohnten Tälern über vermeintliche Jahrhundertromane und ewige Weltschmerz-Alben zu brüten. Beziehungskrisen, Drogen, Pfeiffersches Drüsenfieber oder Spielschulden - der Eskapismus hat viele Gesichter. Die Weltflucht wird zur empathischen Tat erhoben, um jene Ruhe und Abgeschiedenheit zu rechtfertigen, die die Alltagshektik scheinbar nicht bereithält.

Am Ende von „Peer Gynt“ wird selbst die eigene Heimat dem sinnsuchenden Titelhelden und Fantasten fremd bleiben - wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen und gegen vorherrschende Trends. Weil Peers Herz nirgendwo Wurzeln geschlagen hat. Weil seine Seele überall nur wild vor Anker gegangen ist. Weil einzig sein loses Mundwerk in Erinnerung bleiben wird. Wer allein in der Welt daheim ist, ist nirgendwo zuhause. Das möchte man als Resümee diese Theaterabends gerne herausschreien oder wenigstens für die Ewigkeit eingetütet wissen. Damit wäre man dann dicht bei Henrik Ibsen, möglicherweise aber auch bei Alexander Gauland und dessen Tiraden gegen geargwöhnte „Heimatverweigerer“ wie Mesut Özil, der bekanntermaßen schon schweigt, wenn er nur singen soll, und damit unfreiwillig zu Peers anarchistischem Antagonisten im Jetzt wird. Religiös, introvertiert und multiethnisch, eine Stilikone fürwahr. Doch auch ein Gesprächspartner für einsame Abende in der bereits oben erwähnten Hütte am Ende der Welt? Wer die Wahl hätte, würde sich dann doch für Peer entscheiden, nicht aufgrund Gaulands Vorbehalten, sondern aus Gründen des Amüsements. Sorry Mesut, verdammter Langweiler, aber deine abendfüllenden Pantomimen als Kicker rufen keine Beifallsstürme mehr hervor, selbst wenn die jüngste Performance mit Erdogan ziemlich gekonnt mit der griechischen Tragödie spielte, was natürlich weder Gaulands rechter Truppe noch den meisten Deutschen aufgefallen ist.

Es stimmt schon: Möglicherweise hat sich das ideologische Drehmoment im Verlauf von Zeitenwenden und geänderten Weltordnungen im deutschen Sprechtheater nachhaltig verschoben. Deshalb schadet es nicht, wenn man Ibsens Hauptwerk noch einmal undogmatisch memoriert, bevor man sich dem Treiben auf der Bad Hersfelder Monsterbühne hingibt, denn auch Regisseur Robert Schuster lässt von Beginn an keinen Zweifel daran, dass er Ibsens „dramatisches Gedicht“ nicht naturalistisch ausleuchten mag, sondern den modernen Menschen in seiner Beschränktheit und Zügellosigkeit in der digitalen Medienwelt vorführen will. Gelegenheiten dafür bietet die metastasierende Erzählstruktur reichlich. Da darf der Gernegroß mit der bäuerlichen Kinderstube in überschaubaren zweieinhalb Stunden als Großkapitalist und Prophet, Playboy und Kaiser eines Heeres von Irren mit der Bühnentechnik um die Wette leuchten.

Surfende Aufschneider und Glücksucher als Antihelden im Reich des Darknets.

Immerhin muss er nicht ständig den Verführer geben. Aus Christian Nickels irgendwie alterslosem Lügenbaron spricht mehr der gutbetuchte und wortgewandte Salonphilosoph, dem die Frauen nachsteigen. Allen voran Corinna Pohlmann als wunderbar bizarr herausgeputzte und sexuell übergriffige Trolltocher, die mit ihrer Kieksstimme und einem Spiralkabel im Hintern nichts unversucht lässt, um Peer empfänglich zu machen für die Liebe zu ihr. Aus der mythischen Armee der Fabelwesen des Originals sind im Nordhessischen zombiehafte Zwitterwesen entwachsen, die als manipulative Menschmaschinen im Darknet ihr Unwesen treiben, wenn sie auf Elektrokarren über die Rampe kurven und koboldhaft an ihren Serverkabeln zucken und zischeln. Nickel liefert in Bad Hersfeld seine reifste Leistung seit Jahren ab, bisweilen steht aber auch er betreten neben sich, wenn sich die visuellen Dialogräume seines Regisseurs antichronologisch füllen. Schuster lässt sein fehlprogrammiertes, virtuelles Kopfkino um fleischgewordene Bits und Bytes, das Edvard Griegs berühmte Musik nur rudimentär umweht, im vierten Akt beginnen.

© Bad Hersfelder Festspiele / K. Lefebvre

Bei Ibsen ist die Messe hier fast gelesen, bei Schuster wird eine zeitgeistig geprägte Surfer-Party in Marokko erst zum Dreh- und Angelpunkt der vertraut ausufernden Geschichte, die bisweilen retrospektiv auf hin- und herfahrenden Videoleinwänden erzählt wird. Imposant gestaltet sich Peers spätes Comeback in der rauen Heimat, wenn digitale LED-Welten mit realen Spielebenen verschmelzen: Während man den Todeskampf der Schiffbrüchigen oben im Ausguck des Videowürfels noch als wortmächtiges Überlebensspiel bestaunen darf, sieht man Peers prominente Kumpane André Hennicke und Claude-Oliver Rudolph darunter bereits leichenstarr und mit Sonnenbrille in der digitalen Welt des Trickfilms Richtung Meeresgrund rauschen. Freilich sind die Egos von Peers Sportfreunden schon davor an den Eitelkeiten der Moderne zerschellt oder im seichten Fahrwasser des Cluburlaubs vergurgelt, denn der Klassiker von 1867 spielt nur sporadisch in der nordischen Einöde, umso häufiger auf einem „Expeditionsdampfer auf der Suche nach sich selbst.“ Auf dem Esoterik-Kahn mit Yoga-Animation gibt Nina Petri als Brigitte Begriffenfeld abwechselnd als Ärztin, Moderatorin und Irrenhausleiterin den Ton an, und wenn sie als Chefin der Klapse den Tod von Peer Gynts Mutter Aase im Klinikbett nachstellt, dann ist das nicht nur der ergreifendste Moment des Abends, es schält sich zugleich auch das Regiekonzept in seiner wilden Mixtur aus Dürrenmatts „Die Physiker“ und Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“ heraus. Verhandelt wird die Suche nach Peers wahrer Seele im Plauderton einer Selbstfindungsgruppe in der Psychiatrie, das wirkt als Arbeitsauftrag zum sommerlichen Festspieltheater ganz schön gewagt, aber ist es auch stimmig?

In den Neunzigern gelangen dem Sachsen Schuster zusammen mit Regie-Kumpel Tom Kühnel vielbeachtete Inszenierungen am Frankfurter Schauspiel. Mit einem noch blutjungen Christian Nickel als Peer Gynt und einer ausdrucksstarken Jenny Schily als Solveig gelang ein Ibsen als Parodie auf die Trash-Formate des noch jungen Privatfernsehens. Später sollte das Leitungs-Duo sogar dem totgesparten Theater am Turm im Bockenheimer Depot neues Leben einhauchen. Stets dabei: die Puppenbauerin Suse Wächter. Gegen sie war Doktor Frankenstein ein Stümper: Ihre gespenstisch lebensechten Geschöpfe belebten nicht etwa die Kinderbühne, sie interagierten so gleichberechtigt wie selbstverständlich im Welttheater unter der Führung realer Schauspieler. Den spöttischen Blick auf die Medienlandschaft hat sich Schuster bis heute erhalten, gegen die Fake News in den Sozialen Medien und die krankhafte Selbstoptimierung als Folge der Digitalisierung wirkt Wächters Puppendynamik jedoch mittlerweile wie ein heiß gelaufener Anachronismus. Wenn der greise Peer in der ehemaligen romanischen Abtei seiner eignen Kindheit in Marionettengestalt begegnet, generiert das zwar nach wie vor herzzerreißende Bilder, aber das Verharren im Dekorativen legt sich zuweilen über die Inszenierung wie ein Schleier, der den Blick auf die Scheinwelten der Marke Trump trübt.

Ob im Anzug oder im Blaumann - Christian Nickel ist die große Illuminationsmaschine in Ibsens Epochendrama.

Regisseur Schuster ist ein schneidiger Theatererneuerer auf der Höhe der Zeit, die Courage, die etwa seine Kollegen vom Hildesheimer Theaterkollektiv Markus & Markus an den Tag legen, geht ihm jedoch ab. Die Performer lassen an den Münchner Kammerspielen gerade ihren Peer Gynt als Frauenhelden tanzen, als Piloten Pirouetten drehen und mit dem Maschinengewehr hantieren. Als der Knopfgießer seine Seele wie eine missratene Bleifigur umschmelzen will, kann Peer dem Schicksal nur entgehen, wenn er beweisen kann, dass er in seinem Leben er selbst gewesen ist. Doch der hat am Ende seiner Tage eine Mauer um sich gebaut und ist dement. Dass Theater stellt die großen gesellschaftlichen Fragen stellvertretend für sein Publikum: Was ist das Selbst? Und wer entscheidet, wessen Realität hier gilt? Christian Nickel wirft in Bad Hersfeld hingegen die große Illuminationsmaschine als selbstsüchtiger Weltenbummler an. Ob im Anzug, ob im Blaumann, keine Zerrissenheit um Großmachtphantasien und erotische Verwicklungen wird man ihm nachsagen können. Eigenschaftslosigkeit als Alleinstellungsmerkmal eines Mannes ohne Eigenschaften - das muss man als Travelling-Experte und ewiger Stenz mit neun unehelichen Kindern erst mal hinkriegen, wenn man nicht Rudi Gutendorf heißt. Solveig, die ihn liebt und ihr Leben lang auf ihn warten wird, ist mit der afghanischen Schauspielerin und Frauenrechtlerin Leena Alam erstklassig fehlbesetzt. Ausdauernd signalisiert sie Peer, dass die wahre Liebende in einer Welt voller Egoisten nur eine Migrantin sein kann. Das kann auch als böser Witz im Spätherbst der Kanzlerschaft Merkel aufgefasst werden.

© Bad Hersfelder Festspiele / K. Lefebvre

Der Tod bei der Suche nach krankhafter Selbstbestätigung hat viele Gesichter, in Taiwan sollen Computerspiel-Zocker schon leblos mit viereckigen Augen vom Hocker im Internet-Café gerutscht sein. Daran muss man unweigerlich denken, wenn man den Hersfelder Abend als eine große Operation am offenen Gehirn eines abgefackelten Suchtpatienten rekapituliert. Wer sich dem Wahnsinn nähern möchte, kann hier im Zweifel nur an dem äußerlich gesunden Organ eines Digital Natives herumschnippeln. Der Irrsinn bleibt, wie der Großteil eines Eisbergs, stets unter der sichtbaren Oberfläche verborgen, die Zersplitterung und Episodenhaftigkeit von Peers Leben klappt die Regie immerhin gekonnt bildreich aus- und ineinander. Der Versuchung, die dunkle Tiefe der Ruinenbühne zu bespielen, um Gynts Verlorenheit Gestalt zu verleihen, erliegt kaum jemand, weil dem derzeit herrschenden Zeitgeist kaum Tiefe abzuringen ist. Agiert wird meist weit vorne, im Erzählrahmen der Anstalt. Den verräterischsten Satz am Premierenabend ließ sich ausgerechnet der nicht gerade als Theater-Nerd bekannte hessische Ministerpräsident Volker Bouffier entlocken. „Peer Gynt“ sei heute so aktuell wie vor 150 Jahren, sagte er. Es gehe um die Suche nach erfülltem Leben. „Menschen inszenieren alternative Fakten und retuschieren ihre Biografie, weil sie ihnen nicht glamourös und beneidenswert genug erscheint.“ Im Herbst finden in Hessen Landtagswahlen statt, Bouffier gibt erneut das Schlachtross vorm CDU-Karren. Kann es sein, dass da einer seinem Ibsen einen entscheidenden Erkenntnisgewinn abgetrotzt hat? Aber das wäre eine ganz andere Inszenierung für den 28. Oktober.

Die Bad Hersfelder Festspiele finden bis 3. September statt. Außer „Peer Gynt“ werden im Sprechtheater noch „Shakespeare in Love“, „Indien“, „Lenas Geheimnis“ und „Der alte Mann und das Meer“ gezeigt. An Musicals gehen „Hair“ und „Titanic“ über die Bühne der Stiftsruine.

www.bad-hersfelder-festspiele.de

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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