Prügelnd durchs braune Warschau

Die Faszination der Literatur für das Boxen ist fast so alt wie der martialische Kampf selbst. Am Thalia Theater zeigt Ewelina Marciniak seit 14. September „Der Boxer“ als Uraufführung. Den politischen Punch entfacht Szczepan Twardochs Roman dort aber nur selten. FRIZZmag hat sich für die Serie "THEATERcross-border" die Hamburger Premiere angesehen - und gibt Freunden des Faustkampfes zudem schlagkräftige Lesetipps zur Frankfurter Buchmesse.

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© Krafft Angerer

Boxen sei „nur begrenzt literaturfähig“, sagt Michael Lentz. Es ginge ja über „konkrete Bewegungen“, worüber man schon „sehr lange brüten“ müsse. Der Bachmann-Preisträger und Professor am Literaturinstitut in Leipzig ist ungeachtet dessen selbst vom Faustkampf infiziert, steigt regelmäßig im Boxtempel Weißensee in den Ring. Lentz Skeptizismus zum Trotz sind es rund 200 Romane und längere Erzählungen, die sich mit dem Boxen beschäftigen, darunter so bekannte wie Schulbergs „Schmutziger Lorbeer“ oder Gardners „Fat City“, aber auch ungewöhnliche wie Heinrich von Kleists „Zwei Baxer“ oder die „Boxkampf-Beichte“ von Bernd Eilert. Auch in den Werken von Joyce Carol Oates, Djuna Barnes oder Robert Musil wimmelt es von literarischen Seitenhieben auf die schwitzende Branche. Und natürlich Brecht. Der begann einen nie vollendeten Boxerroman, verfasste Manifeste über die rüde Prügelei und legte mit „Der Kinnhaken“ eine veritable Boxerzählung vor. Natürlich sei es Brecht mehr um die soziologische Betrachtung gegangen, weiß Lentz. Und um die Selbstinszenierung als cooler Bursche.

Der Punchingball baumelte nicht nur im Arbeitszimmer des großen Dramatikers, auch Norman Mailer und Georges Simenon hingen in Schreibpausen häufig erschöpft in den Seilen. Während Ernest Hemingway sogar gegen echte Profis ausgekeilt haben soll, ist von deutschen Literaten wie Wolfgang Hilbig, Wolf Wondratschek oder Helmut Kuhn immerhin bekannt, dass sie selbst häufig zum Privatvergnügen in den Ring stiegen - und dabei mancher Wirkungstreffer literarischen Niederschlag fand. Und Hand aufs Herz: Welch einstiger Faustkampf-Rookie würde sich an Henry Maskes tumbe RTL-Prügeleien Anfang der Neunziger zurückerinnern, hätte ihnen nicht der Ex-Boxkampfrichter Werner Schneyder jene unverwechselbare wie ironisierende Grundierung als Kommentator mitgegeben? Maske, der einstige Oberleutnant der Nationalen Volksarmee, und der kecke Grazer Kabarettist - sie lieferten sich die eigentlichen spannenden Infights im deutschen Privatfernsehen der Nachwendezeit.

Der größte Literat im Ring aber war Muhammad Ali. Der Mann hatte eigentlich immer Geschichten zu erzählen. Auch nach Jahrzehnten erinnern sie in ihrer performative Kraft an die Kunstfertigkeit einer Kate Tempest oder den Gangsta-Raps. Ali verlagerte das Kämpfen vom Ring in eine andere Sphäre des Kräftemessens, lange bevor der erste Gong das eigentliche psychologische Kesseltreiben eröffnete. Er hatte die Fehde mit seinem Mundwerk schon gewonnen, bevor es zum ersten Schlagabtausch kam. Spätere Champions entgingen dem seelenkundlichen Nahkampf, indem sie so wenig Zeit wie möglich zwischen den Seilen verbrachten. Mike Tyson gestand einmal, seine Gegner gerne in den ersten Minuten niederzubügeln - wohl nicht nur deshalb, um die körperlichen Schmerzen so gering wie möglich zu halten. Die Legende von den Worten, die töten können, sie wurde seit den Sechzigern zum ständigen Sparringspartner.

Eigentlich liefert Twardochs Roman die Steilvorlage für eine politsatirische Räuberpistole.

Der größte Faustkämpfer aller Zeiten wusste umgekehrt beredt zu schweigen, wenn es der Augenblick erforderte. Über Alis Kampf gegen George Foreman in Kinshasa wurde jüngst erneut jene Szene bekannt, die sich im Anschluss eines Vortrags Alis vor zweitausend Harvard-Studenten ereignete. „Erzähl uns ein Gedicht“, forderte lauthals ein Student, worauf Ali einen Moment überlegte und dann leise erwiderte: „Ich, wir.“ Zwei Worte, die als kürzester Vers aller Zeiten in die Literaturgeschichte eingingen - und doch ganz beiläufig die Missstände in der damaligen Volksrepublik Kongo benannten. Diktator Mobutu wollte „Rumble in the Jungle“ als Werbemaßnahme für sein korruptes Land instrumentalisieren, für Ali hatte der mittlerweile globalisierte Faustkampf hingegen stets eine gleichnishafte politische Bedeutung: Die Abschaffung von Rassendiskriminierung und Sklaverei, verhandelt auf der Weltbühne namens Boxring.

An Alis parabolisches Statement denkt unweigerlich, wer die Eindrücke der Uraufführung von „Der Boxer“ langsam in sich sacken lässt. Rund zwei Stunden darf man auf der Thalia-Nebenspielstätte in der Altonaer Gaußstraße dem jüdische Boxer Jakub Shapiro dabei zusehen, wie er die Kraft und Geschicklichkeit seines Körpers einsetzt, um dem Elend seiner Herkunft zu entkommen. Es wird eine eher öde Leistungsschau aus Hauen und Stechen, die dem Schauspieler Sebastian Zimmler wenig Raum lässt, die Doppelbödigkeit der Handlung - angesiedelt irgendwo zwischen Mafia-Epos und dem Verlust der Unschuld der Warschauer Zivilgesellschaft in den Dreißigern - nachhaltig zum Schwingen zu bringen. Im weitläufigen Bühnenraum wird zwar eifrig geschwitzt, doch offen bleibt, warum wir uns für diesen blutleeren Maulhelden eigentlich erwärmen sollen.

© Krafft Angerer

Dabei liefert Szczepan Twardochs Romanvorlage gewissermaßen die Steilvorlage für eine politsatirische Räuberpistole in der Jetztzeit. Shapiro arbeitet für den Paten Jan Kaplica (Oliver Mallison), der über die polnische Hauptstadt herrscht wie Al Capone über Chicago. Der Großganove kontrolliert die Bordelle, treibt Schutzgeld ein und genießt das Leben in dicken Autos und dunklen Bars. Doch wann immer der Kampf gegen die einfallenden Nationalisten das süße Leben überschattet, lässt Regisseurin Ewelina Marciniak viel zu selten die Boxhandschuhe sprechen, spielt stattdessen pflichtschuldig zu einer Musikrevue auf, die sich aus koketten Varieté-Versatzstücken und Nachtclub-Prügeleien mit Charleston-Untermalung zusammensetzt. Dazu liefert Mirek Kaczmareks Bühne den stilvollen Rahmen aus ganz viel Swinging Warschau und jener Prise Endzeit, die wir aus dem Berlin der Goldenen Zwanziger vom Streamingdienst Netflix kennen.

Die Frauen treten als Dummchen, Nazi-Huren und Kommunisten-Tröten auf.

In ihrer dekorativen Eleganz entwickeln immerhin die wenigen abstrakt-verfremdeten Boxszenen einen verstörenden Nachhall, den Anita Wältis Trompeten-Einschübe traumwandlerisch verstärken: Shapiro kann zwar den faschistischen Haudrauf Ziembinski im Zweikampf auseinandernehmen, aber den Faschismus nicht besiegen. Wie Sven Schelker diesem aasigen Widersacher eine amorphe Gestalt verleiht, das gehört zu den Glanzpunkten des Abends: Der gedemütigte Rechtsausleger muss nicht nur die Schmach im Ring ertragen, sondern Shapiros Liaison mit seiner Schwester Anna (Toini Ruhnke) erdulden. Wenn Schelkers Ziembinski anschließend konziliant-lächelnd die Autorität seiner einflussreichen Clan-Familie in den verrauchten wie verruchten Music Halls in die Waagschale wirft, dann können wir das Schreckensszenario am Vorabend des Einmarsches des deutschen Wehrmacht und der Errichtung des Warschauer Ghettos stets fröstelnd erahnen. Die rechte Gesinnung wird bei diesem schneidigen Kriegsgewinnler schnell zum Brandbeschleuniger und zu einem kalten Instrument der Macht, aber auch zum Stimmungsaufheller für das geknickte Ego. Am Ende werden sich alle an den deportierten Juden bereichern, Nationalisten und Sozialisten, schlagkräftige Faustkämpfer und zahnlose Demokraten. Dabei hätte man es belassen können. Doch die Regisseurin will mehr.

Sie gruppiert ihre Kirmestruppe im Champagner-Rausch um ein politisches Lagerfeuer, das die Gräueltaten der Nazis mit der behaupteten Rechtsstaatsfeindlichkeit unter der heutigen polnischen Regierung verschneidet. Wer so breitbeinig im Theater auftritt, der braucht schon starke Figuren, um die Thesenhaftigkeit der ohnehin recht kippligen Literaturvorlage glaubhaft zu unterfüttern. Marciniak lässt freilich nur Klischees über einen vermeintlichen Illiberalismus aufploppen, mit denen nicht mal gestandene Leninisten gegen die nationalkonservative PiS-Partei in deren Heimat Wahlwerbung machen würden. Dabei ist bereits der Hauptkronzeuge der jungen Spielleiterin ein Totalausfall in Sachen Demokratie: Der Jude Jakub Shapiro hat zwar das Herz eines Boxers, aber auch das schlichte Gemüt eines Kindes. Hier schlägt sich kein Widerständler aus innerer Einsicht für seine Überzeugungen durch, da prügelt sich höchstens ein tumber Hallodri, der von seinen diversen Gespielinnen nicht angezählt werden will. Ein selbstverliebter Beischläfer, der immerhin aufräumt mit dem Stereotyp des „guten Opfers“ und sich lieber gleich im Takt elektronischer Musik durch die Betten vögelt.

Überhaupt die Frauen. Toini Ruhnke, Rosa Thormeyer und Anna Blomeier haben belanglos-phrasenhafte Auftritte als Dummchen, Nazi-Huren und Kommunisten-Tröten. Eine klare Rollen-Differenzierung hat die Dramaturgie (Susanne Meister) ebenso wenig eingezogen wie eine plausible Stringenz, aus welcher Perspektive dieses folkloristische Krippenspiel denn nun gerade erzählt werden soll. Als Zuschauer befinden wir uns permanent im Strudel historischer Ereignisse, der sich aus subjektiven Wahrheiten und objektivem Blödsinn speist. Irgendein kranker Kopf weiß immer etwas zu erzählen. Ein bildstarker Abend fürwahr, aber auch einer mit vielen Falten und wenig Facetten. Die Figuren, die diese despotische Gewaltspirale schleichend in Gang setzen, sie bleiben uns ungleich fremder als das zwielichtige Personal, das uns in schummrigen Boxclubs über den Weg läuft.

„Der Boxer“ steht seit Beginn der Spielzeit 2019/20 auf dem Spielplan des Hamburger Thalia Theaters. Die nächsten Vorstellungen sind bis November dieses Jahres in der Nebenspielstätte „Gaußstraße“ terminiert. Weitere Infos und Tickets über das Gesamtprogramm hält das Internet unter www.thalia-theater.de bereit.

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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