Der Greis im Kreidekreis

Nach vierzig Jahren kehrt Ex-Regie-Berserker Claus Peymann zurück nach Stuttgart. Sein „König Lear“ (seit 23.2.) ist alterskluges Welttheater mit starken Bildern. Die FRIZZmag-Serie "THEATERcross-border" rät zur Anfahrt an den Neckar.

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© Thomas Aurin

Blindwütig setzt der alte König die Welt in Flammen, weil ihn zwei seiner drei Töchter enttäuscht und betrogen haben. Das Verhalten der Brut lässt Lear in den Wahnsinn abdriften, Chaos und Gewalt treten an Stelle von Gesetz und Moral. Mit Shakespeares alten Monarchen betritt nach vierzig Jahren gleich noch ein weiterer Altmeister der Zunft die Schauspielbühne am Neckar. Nach Jahren als „Theaterkönig“ sei er froh, auf Einladung von Intendant Armin Petras als „einfacher Angestellter“ an seine frühere Wirkungsstätte zurückzukehren, sagt Claus Peymann. Von 1974 bis 1979 war er hier am Schauspiel Theaterleiter. Im vergangenen Jahr nahm er seinen Hut als Chef des Berliner Ensembles - nicht ohne seinen designierten Nachfolger Oliver Reese noch ein paar vergiftete Pfeile hinterherzuschießen. Nein, ein einfacher Angestellter ist Peymann sicher nicht. Aber ist er noch ein Provokateur?

Die Schwaben haben ihn immer respektiert. Viele liebten ihn sogar, diesen Bremer Brausekopf, der in den Sechzigern das Frankfurter Theater am Turm zu einer Experimentierbühne umfunktionierte und den nicht minder unangepassten Handke häufig eine Bühne bot. In Stuttgart sammelte er einst für eine Zahnbehandlung der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, was ihn mit Ministerpräsident Hans Filbinger aneinandergeraten ließ. Der Alt-Nazi und der Alt-Achtundsechziger, sie markierten höchst unterhaltsam die politische Kampfzone abseits der Bühne, wo sich ohnehin Unerhörtes abspielte. Dass er nichts und niemanden scheute, machte ihn später auch zum Rebellen in Bochum und Wien. André Heller beschrieb ihn einmal als eine „fleischgewordene Wohngemeinschaft“. In ihr seien „ein eleganter Herr gemeldet, ein trotziger, wunderbar verspielter Kindskopf, ein Grantler mit Tobsuchtsneigung und ein brillanter politischer Analytiker, unfähig zum Opportunismus“. Jeden Morgen werde „entschieden, welcher Peymann Ausgang enthalte.“ An der Spree zeigte sich der Regie-Altmeister zuletzt zugeknöpft. Peymanns Königreich war keine Revoluzzerbude mehr. Das Theater am Schiffbauerdamm war voll und generierte kaum Skandale. Der mittlerweile 80-Jährige schien dem politischen Streit abzuschwören, je näher er der Machtzentrale der Republik auch räumlich auf die Pelle rückte: „Mutti“ Merkels moderierender Regierungsstil wirkt wohl auch als Narkotikum im Regietheater.

Auch beim Stuttgarter „Lear“ wird augenfällig, dass Peymann sich fast in einem Akt vorauseilendem Gehorsam bemüht, möglichst wenig in Shakespeares wohl düsterstes Stück hineinzulesen. Aber worauf nimmt er Rücksicht? Martin Schwab geht in seinem König Lear als törichter alter Mann auf, zeigt vom Lächeln über die munteren Äugelchen bis zum gemütlichen Wiegeschritt fast alle Klischees eines Greises, bei dem man sich fragt, warum er sich so lange an der Macht halten konnte. Shakespeare lässt ihn bekanntlich in der Wüste wahnsinnig werden, Peymann schenkt ihm die Gnade eines kurzen Comebacks, das ihn in einer sturmgepeitschten Gewitternacht zu hellsichtigen Monologen ansetzen lässt. Zu spät, Schwabs dementer Herrscher kann die dramaturgischen Untiefen des Stücks nicht wirklich ausloten. Wie er hier Mitleid erbittet, darf angenommen werden, dass er im Amt schon früher überfordert war oder das Schicksal einer ausgewachsenen Depression vor Beginn des Stückes an ihm nagte. Wird Lear in Wirklichkeit also von seiner Einfalt bestraft? Entsorgt nicht von der Intrige, nur fortgetragen von der eigenen Dummheit? Es wäre freilich eine Wahrheit, die so nicht bei Shakespeare steht.

Die dramaturgischen Ungereimtheiten setzen Lear stärker zu als das Gift, das die bösen Töchter verspritzen.

Die Titelfigur dieses Klassikers ist seit jeher eine der begehrtesten Altersrollen. Ihre gewaltige Fallhöhe vom absoluten Herrscher zum wahnsinnigen kleinen Menschlein, dem die eigene Eitelkeit und die Machtgier zweier Töchter alles genommen haben, fordert jedem Schauspieler Großes ab: die Darstellung der fortschreitenden Zersetzung einer Psyche und schließlich deren völligen Umbau. Der 81-jährige Schwab ist ein wacher und wahrhaftiger Lear. Der Mangel an jugendlicher Beweglichkeit und die erzählerischen Ungereimtheiten setzen dem Alten aber stärker zu als das Gift, das die bösen Töchter verspritzen. Wenn er eifrig seinen Kreidekreis auf dieser leeren Bühne kritzelt, den Lügen glaubt und die Wahrheit verschmäht, wirkt er wie ein trotziges Kind, aber er bleibt eben auch immer ein Narr am Rande des Pflegenotstandes. Die Krone wird er an den Haken hängen, später wird sie glänzen, wenn sie Edgar aufs Haupt gesetzt wird. Eine gefährliche Last. In Stuttgart ist das alles ohne Ironie zu sehen. Aber in den reduzierten Szenen zeigt sich eben auch Peymanns Meisterschaft, das ganze Gefühl in all seinen verwirrenden Facetten zu zeigen, die absurde Situation, die erschütternde Atmosphäre, das Spiel im Spiel, so ernst, wie es nur sein kann.

Einige unvergessliche Momente in diesem „Lear“ steuert die Technik bei, wenn der Sturm bis in den Zuschauerraum bläst und der Regen suppt. Oder wenn der König Gericht spielt, eine nackte Glühbirne zu sich herunterzieht, im kalten Licht eines imaginierten Obduktionssaals seine Tochter Regan aufschneidet und findet, was er sucht: ihr hartes Herz. Dann denken wir an Shylock und erstarren entsetzt. Leider agieren Regan und ihre eisige Schwester Goneril mehr als Abziehbilder ehrgeiziger Salonschlampen, deren Heimtücke durch den Maskenbildner aufgetragen wirkt. Jannik Mühlenweg muss den Intriganten Edmund gar als Knallchargen geben, und altgediente Ensemblemitglieder wie Elmar Roloff und Wolfgang Stiller, die sonst kleinsten Rollen faszinierende Facetten abgewinnen, sind diesmal zur Farblosigkeit verdammt. Was für ein grandioser Einfall hingegen, die Figur der Cordelia und die des Narren mit derselben Schauspielerin zu besetzen. Beide können nur die Wahrheit sagen, nur dass der Narr es ungestraft tun darf. Wenn am Ende Lear seine tote Tochter im Schoß hält, raunt er ihr zärtlich „armes Närrchen“ zu. Lea Ruckpaul spielt beide Figuren mit einer Mischung aus Artistik, Naivität und unerschütterlicher Wahrheitsliebe bis in die letzte Faser.

Es ist ein „Lear“ fürs plüschige Feuilleton geworden. Eine Schauspielergröße, vier Stühle auf einer Minimalbühne mit Lichterrahmen, viel Zeichenhaftigkeit. Peymann hat alles richtig gemacht. Das ist das Problem. Weniger Altersweisheit und mehr Agitprop hätten dieses Welttheater locker bis ins Hier und Heute getragen - selbst wenn dann Fragen nach der Würde im Alter, der Ungleichheit im Gesundheitswesen und den ethischen Grenzen der Präimplantationsdiagnostik aufgepoppt wären.

www.staatstheater-stuttgart.de

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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