Der Richter im MeToo-Gewitter

Heinrich von Kleists „Der zerbrochene Krug“ (seit 7.4.) thematisiert Männermacht und sexuellen Missbrauch. Das Pforzheimer Schauspiel versucht in Zeiten der MeToo-Debatte einen schlüssigen Zugriff auf das „lustvolle Gerichtsdrama“ zu bekommen. Ob das gelingt, klärt die FRIZZmag-Serie "THEATERcross-border".

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© Sabine Haymann

Von Zeit zu Zeit sieht man den Alten gern. Manfred Krug ist Mitte der Achtziger als Dorfrichter Adam auf Tournee durch die alte Bundesrepublik gegangen, Klaus Maria Brandauer feierte den Adam-Kult ab 2008 in der Regie von Peter Stein. Und Edgar Selge gab den Advokaten in einer umstrittenen Inszenierung von Jan Bosse, unter anderem am Maxim Gorki Theater, in Stuttgart und bei den Ruhrfestspielen. Unvergessen auch Emil Jannings. Er hat den Alten nicht nur nach dem Ersten Weltkrieg auf der Theaterbühne gegeben, sondern auch in einem Film von 1937, der über Jahrzehnte Maßstäbe setzte. Adam, der gesetzte Schwerenöter, der tolldreist das Recht verbiegt, um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, er gilt als deutsche Paraderolle schlechthin: Mit jeder Schauspielergeneration sind neue Dorfrichter herangewachsen.

Am Pforzheimer Schauspiel stolpert Markus Löchner diese Figur als bedauernswerte Gestalt über die Rampe. Komisch wirkt er bestenfalls, wenn er seinen Klumpfuß versteckt und sich die vergangene Nacht zurechtlügt. Die verbliebene Rest-Reue kippt er sich zusammen mit dem Gerichtsrat Walter und mit einigen Gläsern Rheingauer Riesling von der nur schwach belasteten Seele. Wenn Publikumsliebling Löchner streckenweise ins schwäbische Idiom gleitet, streift die ernste Komödie zuweilen scharf am Volkstheater vorbei. Das macht Sinn, denn lustig ist das arme Würstchen nur fürs Boulevard, wenn er die Herkunft seiner Blessuren gestenreich zu erklären versucht. Die ausgestellte Nacktheit, mit der man Adam derzeit etwa am Hamburger Schauspielhaus triezt, um das unfassbare Charaktervakuum dieses Mannes auszustellen, sie weicht hier einer systemimmanenten Milde: Sittenstreng fordert zwar Robert Bestas analytisch auftretender Gerichtsrat von Adam ein plausibles Urteil - aber nun keines, das den konservativen Korpsgeist der eigenen geheimbündlerischen Judikative ernsthaft in Frage stellt. Mit seiner sonoren Bass-Stimme lässt Besta die professionelle Kumpanei mit dem Kollegen Adam kaum anklingen, verlegt sich lieber gleich auf gespielte Autorität. Als Zuschauer will man auch dem Kahlkopf Adam mit seiner verrutschten Perücke am Ende kein Mitleid gönnen, weil sich die Tragödie in der Komödie bei ihm nicht recht verorten lässt.

Dabei sind geniale Komödien stets nur dann genial, wenn sie beständig Gefahr laufen, in eine Tragödie umzukippen, was dieser Geschichte pausenlos droht. Ein Grund wohl, weshalb ausgerechnet der schwermütige Heinrich von Kleist eines der wenigen klassischen deutschen Lustspiele hinterlassen hat. Es ist diese brillante Sprachtiefe, der „Der zerbrochene Krug“ seine Karriere verdankt, der Umstand, dass sich ein Hochtalent auf ein Sujet einließ, das sonst den Verfassern derber Volksstücke vorbehalten blieb. Bei der Uraufführung 1808 kam dieser Umstand nicht zum Tragen. Ausgerechnet Goethe versemmelte als Regisseur die Weimarer Premiere, zog die überschaubare Handlung mit Pausen in die Länge. Die Struktur des Entwicklungsdramas, das im natürlichen Zeitverlauf einer Gerichtsverhandlung die früheren Geschehen raffiniert aufrollt, wurde vom Dichterfürsten einfach negiert.

© Sabine Haymann

In der Balance aus Schwank und dem kleistschen Gefühl von innerer Verlorenheit lässt nun der neue Pforzheimer Oberspielleiter Hannes Hametner sein Bühnenpersonal aus bewährten und frischen Ensemble-Kräften agieren. Wo der Dorfrichter in voraussehbar schmieriger Schlitzohrigkeit über sich selbst Gerichtstag hält, müssen auf dem platten Land zwischen Huisum und Holla die aktuellen gesellschaftlichen Debatten notgedrungen von Nebenakteuren angeschoben werden. Dem ehrgeizigen Schreibers Licht, der mit stiller Tücke am Stuhl seines Dienstherrn sägt, verleiht Lars Fabian verschmitzte Züge ohne erkennbare Durchtriebenheit. Frau Marthe, die als Klägerin vor Gericht erscheint und Sühne für ihren zerdepperten Krug wie für die geschändete Ehre ihrer Tochter einfordert, gibt Katja Thiele als klerikale Zicke, an der die Frauenbewegung vorbeiziehen wird. Zwischen modernem Justizsystem und realer Lebenswirklichkeit entspinnt sich hier höchst verlässlich ein Gewirr aus Wahrheit und Lüge. Dem sehen wir gerne zu. Schließlich sind wir es ja selbst, die wir über die eigenen kleinen Rechtsverstöße und großen Notlügen tagtäglich nobel den Mantel des Schweigens breiten. Doch geht’s im „Krug“ wirklich um Kinkerlitzchen im Gewandt einer griechischen Tragödie?

Richter Adam ist kein Harvey Weinstein. Aber ist er nur ein armes Würstchen mit verrutschter Perücke und in Robe?

Giovanni de Paulis hat die Sprechtheater-Bühne an der Enz in die Länge gestreckt, Stufen führen hinauf zu einer umlaufenden Metallwand mit Bundesadler. Wenn Steffi Baur als entehrte Eve hier schon vor Beginn der Gerichtsverhandlung das Publikum auf ihre Seite zieht, dann steht in diesem Spiegelsaal nicht nur die aktuelle MeToo-Debatte in einem besonders gleißenden Licht. Es ist auch ein Schlachthaus, in dem die bundesdeutsche Verfasstheit mit ihren Amtsmissbräuchen, Bestechlichkeiten und Meineiden gleich mitseziert werden soll. Sexuelle Gewalt in Tateinheit mit Rechtsbeugung beinhaltet zudem Adams Sündenregister, zu dem diese Eve nicht länger schweigen mag. Sie ist keine Unschuld aus der Provinz, kein bloßes Opfer, eher eine moderne Frau, die ihre Missbrauchsgeschichte heute in den sozialen Medien posten würde. Doch wie glaubwürdig wirkt die Göre in einer Welt, in der Fake News via Twitter manch pubertäre Aufmerksamkeitsdefizite übertünchen? Kontrastierend dazu schraubt sich in der Gestalt des Adam die Ödipus-Tragödie des Sophokles wie eine Nebenanklage in die Höhe, eine paradoxe Situation, in der ausgerechnet der lüsterne Adam seine Untat aufklären soll: Der Richter als sein Henker. Mit den gängigen Mitteln des analytischen Dramas ist so einer vernetzten Autorität in Robe kaum beizukommen - zudem Männerbündelei längst auch bei Maybrit Illner oder im kleinen TV-Fernsehspiel leidlich thematisiert wird. Das ist die eigentliche Tragödie des Abends.

In Hametners Theater geht es auch um eine Rechtsauffassung, die schon gebrochen ist, bevor sie den Brunnen erreicht. Die Vertrauenskrise kann nicht wie vor zweihundert Jahren, als das Stück entstand, unter einem Zoten- und Bagatellisierungsgewitter verhandelt werden. Sie ist universeller geworden, tangiert das Verhältnis von Mann und Frau, Kindern und Eltern, Volk und Machteliten in Zeiten der Globalisierung. Edgar Selge überspielte den verstellten Zugriff auf das Stück vor zehn Jahren noch mit einer One-Man-Show voller Klamauk, Marthe referierte darin die kunsthistorische Bedeutung ihres Krugs mit Powerpoint-Präsentationen: „Schließlich geht es hier um unsere Kultur“. Den Satz würden die meisten Dramaturgen heute streichen, aus Angst, in Zeiten erhöhter Migration missverstanden zu werden. Die vorauseilende politische Korrektheit lähmt auch die Neuausrichtung klassischer Stoffe an deutschen Theaterbühnen. Bei Kleist und in Pforzheim sieht man das ebenfalls überdeutlich.

Dort verlegt man die Handlung in eine unbestimmte Gegenwart, mit Notebook, Lounge-Sessel und einem Tresor im Vintage-Look als diffusen Insignien einer entschleunigten Gesellschaft, die in Wahrheit in ihrer Banalität und Coolness gefangen ist. Am Ende sehen wir den Richter auf der Flucht - wohl auch vor der eigenen Abgebrühtheit. Ein fröhlicher Frührentner, der das Recht gebeugt hat und nun über den gestürzten Bundesadler hinwegtrampelt: Unbescholten im Rechtssinn, gezeichnet nur von den schorfigen Wunden, die vage von seiner überstürzten Flucht vom Tatort zeugen. So wird der korrupte Adam nicht von einer höheren Instanz gerügt und in den Ruhestand versetzt. Licht wird nicht sein Nachfolger, Eve nicht glanzvoll rehabilitiert. Die Männer werden weiter als Zoten reißende Regenten durch den Porzellanladen trampeln und ihre Opfer die Scherben zusammenkehren lassen. Doch man wird sie nicht hören, das ist die höhnische Taktik, die keiner weiteren Strategie folgt. Adams Strafmaß wird auf ein Häufchen Scham und eine fleckige Unterhose zusammenschrumpfen. Damit kann er leben. Das Publikum auch. Macht immunisiert. Bis die nächste Generation von Dorfrichter-Darstellern nachgewachsen ist. So ist das im Theater. Und im richtigen Leben? Der zerbrochene Krug wird nie wieder heil.

www.theater-pforzheim.de

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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