Hinterfragte Gegenwart

Patrycia Ziólkowska und Alicia Aumüller suchen im alten Mythos nach Antworten für das Heute. Für ihr Zusammenspiel in „Ödipus Tyrann“ erhalten beide den Gertrud-Eysoldt-Ring. Die Preisverleihung findet am 18. März 2023 (Sa.) im Parktheater von Bensheim statt.

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© Philip Frowein

Es wird Mitte der Neunziger gewesen sein, als ein Freund einen Aufkleber auf seinem Rucksack spazieren trug. Darauf stand: „Liebe Autofahrer, ihr steht nicht im Stau. Ihr seid der Stau!“. Es ging damals eher um Verkehrsinfarkt als um Klimawandel, doch dass Autos giftige Gase aus ihren Auspuffen ausstoßen, das wusste man sehr wohl. Kaum einer ließ deshalb sein Auto stehen.

Was aber hat die kollektive Verdrängung des Klimawandels mit dem „Ödipus“-Mythos zu tun? Eine ganze Menge, findet Regisseur Nicolas Stemann. Seine Bearbeitung der Götterdichtung „Ödipus Tyrann“ am Schauspielhaus Zürich hinterfragt unsere Gegenwart auf sehenswerte Weise. Das hat sich wohl bis nach Bensheim herumgesprochen, wo die beiden HauptdarstellerinnenPatrycia Ziólkowska und Alicia Aumüller nun für ihr Sophokles-Zusammenspiel mit dem renommierten Gertrud-Eysoldt-Theaterpreis ausgezeichnet werden.

In der Jury-Begründung heißt es: „Aumüller und Ziólkowska spielen in „Ödipus Tyrann“ sämtliche Rollen und gebannt schauen wir zu, wie lässig und dennoch ernsthaft, wie komisch und dennoch sensibel sie in diese hinein und aus ihnen wieder herausspringen.“ Virtuos sei es, wie sie als Spielerinnen zu Ödipus‘ Töchter werden, wie sie mal Chor oder Chorführer, wie sie Tiresias, Iokaste, Kreon, Bote, Diener und selbstverständlich auch Ödipus selber sind oder diese Figuren manchmal auch nur skizzieren: „Sie verkörpern sie in schlichten schwarzen Kleidern mit nur wenigen Accessoires auf einer schmalen Bühne vorm Eisernen Vorhang im Vertrauen auf den Text, auf die Geschichte, auf die Sprache. Und aufeinander!“

© Philip Frowein

Meist blieben beide Akteurinnen eng beim stark gekürzten Text, ergriffen nur zu Beginn als Töchter, später als Iokaste, das für sie neu geschriebene Wort. In einer beeindruckenden Sequenz seien zwei Szenen ineinander verschnitten: Die finale Einsicht von Ödipus, der sich daraufhin die Augen aussticht, und die finale Erkenntnis von Iokaste, die sich erhängt.

Weiter hebt die Jury mit Karin Henkel, André Jung und Jossi Wieler hervor: „Wie modern die beiden Künstlerinnen gemeinsam die großen Themen dieses antiken Dramas spielend erzählen, berührt und begeistert. Temporeich und direkt, changierend zwischen den Geschlechtern und keine Klischees bedienend, debattieren sie miteinander über Macht, Schuld und Recht.“ Fasziniert sei man von einem Krimi, der intelligenter und nahbarer kaum erzählt werden könne. Das Geheimnis hinter dem mutigen Spiel von Aumüller und Ziólkowska sei ihre Fähigkeit, sich gegenseitig zuzuhören, sich gegenseitig zu fordern, sich aber auch immer wieder zu bescheiden. Ihr Theater lebe von der „künstlerischen Freiheit im Umgang miteinander.“

Der Gertrud-Eysoldt-Ring gilt als einer der bedeutendsten Theaterpreise im deutschsprachigen Raum und wird seit 1986 jährlich in Bensheim vergeben. Mit der Vergabe der Auszeichnung, einem mit 10 000 Euro dotierten Ehrenring, würdigt die Stadt an der Hessischen Bergstraße und die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste eine schauspielerische Leistung an einer deutschsprachigen Bühne. Die Preisverleihung und er Festakt finden am Samstag, dem 18. März 2023 im Bensheimer Parktheater statt. Infos und Tickets zur Veranstaltung sowie zum Gesamtprogramm der Bensheimer Kultureinrichtung sind zudem über das Internet unter www.stadtkultur-bensheim.de abrufbar.

„Ödipus Tyrann“ ist am 22. und 28. Dezember 2022 im Pfauen des Schauspielhauses Zürich zu sehen, im Jahr 2023 wird die Inszenierung noch einmal am 16. Januar gegeben. Weitere Aufführungen sind projektiert, Infos gibt es unter www.schauspielhaus.ch

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