Dänen lügen doch

Ein rastloser Marko Gebbert wächst in der Titelrolle des Dänenprinzen, die Kieler „Hamlet“-Inszenierung des früheren Wiesbadener Schauspieldirektors Daniel Karasek wirkt dennoch uninspiriert. Die FRIZZmag-Kritik verrät mehr.

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© Olaf Struck

Shakespeare in dreißig Sekunden. Das verspricht jedenfalls der Titel eines neuen Eiführungswerkes über den Mann aus Stratford-upon-Avon, und tatsächlich braucht es selten länger als eine halbe Minute, um eines der 50 Kapitel des Bahnhofkiosk-Buches zu überfliegen. So fix ist Daniel Karasek am Kieler Schauspiel zwar nicht, aber auch wenn sein Hamlet-Überflug keinen Geschwindigkeitsweltrekord aufstellen wird, so rutscht die Inszenierung locker als Westentaschenformat des elisabethanischen Theaters durch. Der Intendant hat keinen Aspekt der literarischen Vorlage unbeachtet gelassen - und doch alles radikal gekürzt. Statt Welt- also Familientheater, das muss kein Nachteil sein, die Transformation vom Kleinen ins Große verläuft ohnehin längst fließend. Warum aber erneut diese ganze „Hamlet“-Folklore, wenn doch nur die Kettenreaktion aus Wahnsinn und Untergangsfantasien im soziokulturellen Mikrokosmos bei Hempels unterm Sofa nachgezeichnet werden soll? Selbst wenn die Hempels hier blaublütig sind - als royale Höflichkeitsfloskel vor der dänischen Krone sieht es erfreulicherweise dann nicht aus, wenn ein verschwitzter Marko Gebbert nach zwei Stunden und zwanzig Minuten, einschließlich einer Pause, vor sein laut applaudierendes Publikum tritt. Der Hamlet-Darsteller ist beileibe keine Hamlet-Maschine. Seiner Hingabe aber ist es zu verdanken, dass das kurze Drama immerhin als kurzweiliges in Erinnerung bleibt.

Die Geschichte selbst ist schon eine Blaupause für gelungene Dramaturgie und zeitlose Spannungsbögen, seit Generationen ein Steinbruch für Creative-Writing-Seminare und ganze Scharen von Drehbuchautoren, die etwa die „Tatort“-Krimireihe in immer absurdere Gefilde fortschreiben. Schon Hamlet war vor rund vierhundert Jahren nicht frei von Esoterik und pathetischer Ergriffenheit. Den Auftrag, als vergeistigter Racheengel die Demokratie im Staate wiederherzustellen, bekommt er ausgerechnet vom Geist seines verstorbenen Vaters eingeflüstert. Dieser behauptet, keines natürlichen Todes gestorben, sondern von Claudius ermordet worden zu sein. Tatsächlich hat sich dieser intrigante Mordbrenner durch die forsche Heirat mit Hamlets Mutter Gertrud noch den Königsthron unter den Nagel gerissen, jetzt will der Bub nach seinem Studienaufenthalt die Ehre retten und als junger Prinz den getöteten Vater rächen. Dänen, so scheint Hamlet zu ahnen und damit einem späteren ostfriesischen Blödelbarden zu widersprechen, lügen eben doch. Besonders, wenn Machtfragen gestellt werden.

Die Welt ist aus den Fugen geraten, doch diesem Hamlet kommt dem Willen zur Tat eine diffuse Handlungsunfähigkeit dazwischen. Mal steht ihm das Gefühl, mal das Gewissen, mal das Denken im Weg. Der Wahnsinn, den er bei klarem Verstand als Maskierung wählt, um unerkannt und ungestört nach der Wahrheit zu suchen und seine Rachepläne umzusetzen, steht so zwar bei Shakespeare im Buche, zu sehen bekommen wir aber einen durchgeistigten Heinrich Faust wie zweihundert Jahre später bei Goethe. Marko Gebbert scheint die ihm angedichtete Todessehnsucht dann auch nur vorzutäuschen, wenn er den aufklärerischen Paranoiker gibt, mitsamt dem verräterischen Totenschädel in Händen. Nicht das Sein oder Nichtsein bestimmt sein Handeln, sondern die postmoderne Frage, was den Menschen in seinem Innersten zusammenhält. Der grübelnde Prinz, in Kiel mehr jugendlicher Rebell als Spielkind, könnte ein junger Mann von heute sein. Brennend vor Wut und Rache, getrieben von Sinnsuche, aber verfolgt von Zweifel.

Als Lebensversicherung hat sich dieser Hamlet seine Ophelia sicher nicht ausgesucht.

Die Fokussierung auf Sturm und Drang statt auf die Beschwörung der alten Weltordnung steht dem Stück in Zeiten eines neuen europäischen Kollektivierungstheaters ganz gut, auch weil zeitgemäße psychologische Figurenzeichnungen als bewährtes Gegengift zu Trump und Brexit diesmal komplett ausfallen. Zacharias Preen spielt seinen Claudius als kalten Karrieristen, wie ihn heutige DAX-Konzerne dutzendfach glaubhafter ausspucken. Rosenkranz und Güldenstern, auf deutschen Bühnen in der Regel clowneske Frondeure, werden von Maximilian Herzogenrath und Tony Marossek als kreuzbrave Botengänger ohne homoerotisches Tamtam gegeben. Zur Rolle der Königin Gertrud fiel schon Shakespeare wenig ein, Agnes Richter spielt sie als sittsames Neutrum ohne Mutterinstinkte. An der fischigen Alten ist die Frauenbewegung wohl ebenso vorbeigezogen wie das kleine Einmaleins konservativer Familienzusammenführung, da überrascht es wenig, wenn der verschmähte Sohnemann in seiner unverstandenen Tollheit erst seine Geliebte Ophelia zurückstößt und anschließend aus Versehen noch ihren Vater Polonius (Christian Kämpfer) ersticht. Erst wird dem Burschen die Mutterbrust verwehrt, dann soll die innere Verrohung noch die geschwänzte Traumatherapie kompensieren. Nein, dieser Hamlet ist nicht gemacht für die Winkelzüge infamer Politik, sondern ein Fall für Freuds Couch.

Als Lebensversicherung wird sich Hamlet seine Ophelia dennoch nicht ausgesucht haben. Jennifer Böhm bleibt als On-Off-Beziehung eindimensional, nur in der tänzerischen Rolle des Hamlet-Ergebenen Horatio zeigt sie transformatorisches Talent, wenn sie metaphorisch und fast zeitgleich als die Gespielin und der Getreue dem Grab entsteigt. In solch allegorischen Momenten von Vergänglichkeit und Wiedergeburt gelingen dem Regisseur auch bekannt starke Bilder, die einigen noch aus Karaseks Zeit als Wiesbadener Schauspieldirektor in Erinnerung geblieben sein dürften. Beseelt auch der Einfall, die Verknappung der Geschichte mit suggestiven Filmeinspielungen des Nachwuchs-Cineasten Moritz Boll voranzutreiben. Dazu hat die Ausstatterin Claudia Spielmann rote Erde ausgekippt und die Bühne mit labyrinthisch angeordneten Trennwänden abgehängt, um der Lächerlichkeit dieses Vexierspiels von realer Macht und eingebildeter Schuld Deckung zu geben. Oder eben riesenhafte Schlupflöcher zu lassen.

Die leider meist unbesetzt bleiben, wenn sich etwa die im wahrsten Wortsinn vergiftete Fechtszene am Schluss dieser Tragödie so dröge-naturalistisch dahinzieht wie ein Trainingsbesuch im Fechtleistungszentrum von Tauberbischofsheim. Dass viel zu viele Leichen Hamlets Weg bis zum bitteren Ende pflastern werden, gehört sicher zum Wesenskern dieser verrätselten Tragödie. Dass am Ende stets beredtes Schweigen stehen muss wie hier an der Kieler Förde, damit haben expressivere „Hamlet“-Fassungen hingegen längst gebrochen.

„Hamlet“ steht seit diesem Frühjahr auf dem Spielplan des Schauspiels Kiel. Die nächsten Vorstellungen sind bis 26. Juni terminiert. Eingeplant ist eine Wiederaufnahme der Inszenierung in der Spielzeit 2019/20. Infos und Tickets über das Gesamtprogramm hält das Internet unter www.theater-kiel.de bereit.

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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