Herzinfarkt beim Vogelflug

„Unendlicher Spaß“ gilt nicht gerade als leichter Theaterstoff. Nun hat Regisseur Thorsten Lensing das überbordende Opus Magnum von David Foster Wallace als apokalyptisches Gesellschaftspanorama am Stuttgarter Schauspielhaus eingerichtet. Operation gelungen, meint die FRIZZmag-Serie "THEATERcross-border".

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© David Baltzer

Keine Sorge, so lange wie bei Matthias Lilienthals Abschied vom Hebbel-Theater dauert es nicht. Vierundzwanzig Stunden hatte der sich einst Zeit genommen, um unter Aufbietung so ziemlich aller Performance-Kräfte Berlins seine Theaterversion des David-Foster-Wallace-Romans „Unendlicher Spaß“ zu zelebrieren. Entsprechend angenehm wirkt es, dass Regisseur Thorsten Lensing sich nun bei seiner Bearbeitung den Sprinterqualitäten der Vorlage zugewandt hat. Foster Wallace, das manisch-depressive Wunderkind der amerikanischen Literatur, hat mit seinem 1500-Seiten-Werk ja einen überschießenden, metastasierenden Mix aus dystopischem Gesellschaftspanorama, trashiger Familiensaga und apokalyptischer Entertainmentsatire geschaffen. In vielem genial, über weite Strecken allerdings auch ein strapaziöses Angeberbuch, das mit Sprachpotenz plätten will. Im Theater schreit so etwas nach Domestizierung.

Der Megalomanie ist der münsterische Theatermacher Lensing jedenfalls nicht verfallen. Nach strahlkräftigen Begegnungen mit Tschechow und Dostojewski hat der freigeistige Ostwestfale auch für sein Zusammentreffen mit dem verstorbenen Sprach-Grenzgänger ein Star-Ensemble zusammengetrommelt: Mit Jasna Fritzi Bauer, Sebastian Blomberg, André Jung, Ursina Lardi und Devid Striesow stehen bewährte Kräfte an der Rampe, die dafür sorgen, dass der unendliche Spaß nie in unsägliche Langeweile umkippt. Es ist ja auch keine Kleinigkeit, die gegenwärtige Welt zu erklären, ohne sie einer einheitlichen Deutung zu unterwerfen. Dass Lensing dabei nur zentrale Motive der Vorlage herausarbeitet, wird sich am Ende der vierstündigen Aufführung als segensreich erweisen. Und dass er als freier Radikaler in der deutschen Theaterlandschaft den Produktions-Schulterschluss mit renommierten Bühnen probt - wie nun etwa dem Stuttgarter Schauspiel - setzt ganz nebenbei enorme Marketing-Kräfte frei.

Deformierte Biografien in einer postmodernen Wüstenei.

Es geht um Geburten und Todeskämpfe, um Schneestürme und Trennungsgeschichten, um phobisch lahmgelegte Männer, übertriebenen Speichelfluss, bildschöne Krankenschwestern und Vögel, die mitten im Flug einen Herzinfarkt erleiden. Wie der Schriftsteller, der sich 2008 mit 46 Jahren das Leben nahm und die Virtuosität des Formulierens in garstige Höhen trieb, so exerziert die Besetzung hier dieses Ringen um Sinn und Erlösung: Devid Striesow und Sebastian Blomberg mit irrsinnig komischer und böser Verstellspielplumpheit, André Jung mit aus dem Herzen gerissener Güte, Ursina Lardi mit ihrer athletischen Verwandlungsstrenge und Jasna Fritzi Bauer sowie Heiko Pinkowski mit kühner Purheit. Das Stück spielt in einer nahen Zukunft, in der Konzerne sogar den Kalender gekauft haben, weswegen man sich durch das „Jahr der Inkontinenzunterwäsche“ oder das „Jahr der mäuschenstillen Spülmaschine“ bewegt. Das amerikanisch-kanadische Grenzgebiet wird in Stuttgart abstrahiert als gigantische Müllkippe erfahrbar. Dort treibt jetzt eine frankokanadische Separatistengruppe im Rollstuhl ihr Unwesen.

Das endzeitlich-futuristische Setting interessiert den Regisseur nur am Rande. Zwar haben Gordian Blumenthal und Ramun Capaul eine nicht näher spezifizierte Grenze in Metallwandform auf die ansonsten weitgehend karge Bühne geklotzt. Aber es geht in Lensings Fassung weniger um den großen kulturpolitischen Overkill, als um die Deformationen der Biografien in einer postmodernen Wüstenei. Im Zentrum stehen die Brüder Incandenza. Deren Vater hat einst als sagenumwobener Filmemacher mit dem Kopf in der Mikrowelle Suizid begangen, was ja schon eine gewisse Lebenshypothek für die Nachkommen mit sich bringt: Hal, ein Lexikonwunder mit ausgeprägten Daseinszweifeln, bemüht sich anfangs noch um die Aufnahme an einer Tennisakademie, wo sich auch sein schwer behinderter Bruder Mario aufhält, der sich Ähnlichkeiten mit einem Reptil einredet. Fast alle Akteure wuseln hier zwischen mehreren Parts hin und her. Lardi, erstarrt in pubertärer Soziallähmung, spielt unter anderem Hal, dieses Wunderkind in Tenniskluft, das Angst hat, in der Traumatherapie zu versagen. Striesow gibt den Womanizer, aber auch einen koksenden Phobiker mit Zeitfimmel. André Jung tritt als schief ins Leben gebauter Mario auf, hat aber vor allem einen grandiosen Auftritt als verquerer Schweizer in einer Selbsthilfegruppe.

Diesen Kampf mit den Abhängigkeiten und Beschädigungen befeuert Lensing erfreulich selten als grell ausgeleuchtete Endzeitvision. Vielmehr schaufelt er mit Gespür und einem erstklassigen Ensemble die existenziell verzweifelte Komik der Vorlage frei. Als dunkler Spaß macht dieses Theater auch gleich viel mehr an.

Die nächsten Vorstellungen sind am So. (20.5.) und Mo. (21.5.) um 18 Uhr im Stuttgarter Schauspielhaus.

www.schauspiel-stuttgart.de

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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