In der Sprache daheim

Über sechzig Jahre Schauspielerfahrung, den Großteil davon als Prinzipal seines eigenen Gastspieltheaters - nach der Corona-Zwangspause meldet sich Walter Renneisen im Oktober mit einem Jubiläumsprogramm zurück: „Der Kontrabass“ (Do., 20.) und „Hessisch für Hessen und Nicht-Hessen“ (Fr., 21.) gehen im Parktheater Bensheim über die Bühne.

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© WR Festspiele

Wer mit Walter Renneisen ins Gespräch kommt, der hat nur kurz den Eindruck, dass sich da eine Schauspieler-Institution in Rage redet. Nein, da parliert ein gesetzterer Mann so süffisant über seine knapp sechzig Jahre währenden Erfahrungen als Bühnen-Recke, dass man ihn sich sogleich als eine seiner etwas rastlosen Figuren vorstellen mag, die er auf der Rampe verkörpert: Den Schalk im Nacken, das Herz auf der Zunge und mit der Gabe gesegnet, das Entrüstungspotential, das leicht für ein weiteres Schauspielerleben ausreichen würde, selbstironisch unter sein Publikum zu streuen. Natürlich ist er eine Rampensau vom alten Schrot und Korn, aber er ist auch ein launiger Rhetoriker von subtilen Sprachbilder auf dem Theater und im Hörspielstudio. In den stillen Momenten wirkt der gebürtige Mainzer dann häufig wie sein sonderlicher Wiedergänger aus dem Stück „Der Kontrabass“. Monologisch räsoniert darin ein alternder Orchestermusiker über seine Berufung, über das Wesen der Kunst und über die Liebe: Seine Hassliebe zu seinem monströsen Instrument und die unheimlich heimlichen Gefühle zu einer Sängerin.

„Eigentlich bin ich schon etwas zu alt für diese physisch anspruchsvolle Rolle“, erzählt der in Bensheim lebende Tausendsassa und freut sich ungeachtet darüber, Patrick Süskinds hintergründiges Ein-Personen-Stück nach über zweieinhalb Jahren Coronapandemie endlich im benachbarten Parktheater stemmen zu dürfen. Es sei auch eine Parabel auf das Berufsbild vieler seiner Kollegen, stellt Renneisen klar, ein Gleichnis über gefallene Diven, die solo durchs Leben stolperten, aber ausgerechnet auf der Bühne selten ein Solo haben. Der kreative Geist nicht als Meister, sondern als tragikomisches Opfer seines Instrumentariums - es ist die Chronik einer wechselseitigen Aneignung, die der heute 82-Jährige zuweilen selbst auf und hinter der der Bühne durchlebt hat. Ob dieser Tonschöpfer nun seine schrullige Bassgeige oder das klobige Trumm umgekehrt die waidwunde Künstlerseele gefunden hat, das lässt Süskind in seinem Text weitgehend offen. Sicher ist, dass der aufwandsarme Einakter das Bühnentier Renneisen noch immer sprachmächtig in seinen Bann zieht. Er ist zu seinem späten Markenzeichen geworden.

Das Geld für die Schauspielausbildung muss er sich buchstäblich zusammentrommeln - als Schlagzeuger in einer Beatcombo.

Nach dem Abitur in Rüsselsheim studiert er Theaterwissenschaften, Germanistik und Philosophie in Köln und Mainz. Das Geld für eine Schauspielausbildung an der Westfälischen Schauspielschule in Bochum und beim Pantomimen Jacques Lecoq muss er sich im eigentlichen Wortsinn zusammentrommeln - als Schlagzeuger in einer Beatcombo. In Bochum verpflichtet ihn der große Intendanten Hans Schalla fürs renommierte Schauspielhaus, Renneisen entscheidet sich lieber für die Ochsentour, Lehrjahre an kleineren Bühnen, wo er den Mephisto im „Urfaust“, den Sosias in Kleists „Amphitryon“ und in späteren Jahren den Salieri in Schaffers „Amadeus“ und den Yvan in Rezas „Kunst“ gibt. Die Liebe hält ihn in Darmstadt und lässt den heute vierfachen Familienvater an der Hessischen Bergstraße Wurzeln schlagen. Die Autarkie als freiberuflicher Schauspieler spült ihn ab 1978 mit Gastspiel-Verträgen nach Stuttgart, Bonn und Göttingen, zu den Schlossfestspielen nach Ettlingen, den Festspielen Wunsiedel oder dem Rheingau Musik Festival. Jetzt fragen ihn bekannte Tourneetheater an, Euro-Studio Landgraf, Kempf, die Münchner Tournee. Kneifen gilt nicht.

Dieses „Vagabundenleben aus dem Koffer“ sei nicht einfach gewesen, erzählt der Bundesverdienstkreuz-Träger rückblickend, „zumal, wenn man eine Familie hat“. Mindestens fünf Wochen dauerten die Proben, dann seien es häufig sechzig Aufführungen am Stück gewesen, manchmal auch einhundertzwanzig. Monate von zu Hause weg, jeden Tag eine andere Stadt, irgendwo auf einer deutschsprachigen Bühne. An zwanzig Gastspieltermine könne er sich gewöhnen, dachte er bei sich, mit einer eigenen Kompanie ließe sich das leicht bewerkstelligen. Der Zufall und eben Süskind helfen ihm, die Idee in die Tat umzusetzen.

Er liest den „Kontrabass“ und findet das Stück „so gut, dass ich es unbedingt spielen musste.“ Premiere war 1987 in einem kleinen Bensheimer Kellertheater, ein kalter Januartag. Irgendwann wird Renneisen von einem „Publikumsrenner“ sprechen, da liegen die Buchungen aus fünfundzwanzig Städten bereits auf seinem Schreibtisch, die heimliche Geburtsstunde der „Walter Renneisen Festspiele“. Im Herbst 1989 geht das Unternehmen erstmals auf Reise, mit dem Geschäftsführer und einzigen Schauspieler in Personalunion am Steuer eines klapprigen Lkw: „Ich mietete die Fuhre, meine Frau half beim Einladen des Bühnenbildes.“ Gegen Mittag musste er am Spielort sein, dann begann das Stellen der Kulissen, anschließend Beleuchtungs- und Tonproben. Schminken, ins Kostüm steigen und spielen. Danach abbauen, den Laster beladen und ab ins Hotel. Oder die Nacht durchfahren, wenn der nächste Gastspielort siebenhundert Kilometer entfernt ist. „Thespiskarren, fahrendes Volk!“, ruft sich Renneisen schmunzelnd seine Pionierjahre als nimmermüder Wandervogel in Erinnerung, „Leute, hängt die Wasche weg, die Schauspieler kommen!"

Der Wanderzirkus des umtriebigen Mimen ist auch nach Jahrzehnten ein Familienbetrieb geblieben, ein eigens für den Vertrieb von Tonträgern und Publikationen gegründeter Verlag hat sich dazugesellt. Mittlerweile hat Ehefrau Elisabeth die Organisation und das Marketing übernommen, eine Veranstaltungsfirma übernimmt den Transport und Bühnenaufbau. Diversität bei steigenden Aufführungszahlen - rund einhundertfünfzig im Jahr - spiegelt auch das künstlerische Repertoire wider: Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ und „Die Sternstunde des Josef Bieder“ nach Eberhard Streul und Otto Schenk haben sich längst neben Süskinds modernem Klassiker etabliert. Bei vielen Zuschauern dürften auch die literarisch-musikalische Büchner-Hommage „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“, die musikalische Lesung „Heinz Erhardt - Konzertpianist und Clown“ sowie das neue Zweipersonenstück „Empfänger unbekannt“ von Kressmann Taylor, kontrapunktiert mit Ausschnitten aus Hitlers „Mein Kampf“, in Erinnerung geblieben sein.

Renneisen ist im subtilen Welttheater ebenso verankert ist wie in der Humoreske unterm Weinberg oder im wuseligen Jazz-Universum.

Dass er sich als offizieller „Botschafter der Bergstraße“ und ehemaliger Darmstädter Turmschreiber nun ausgerechnet seine mundartliche Revue „Hessisch für Hessen und Nicht-Hessen“ für sein sechzigjähriges Bühnenjubiläum im Parktheater ausgewählt hat, unterstreicht den lebensklugen Gencode des heimatverbundenen Südhessen, der im subtilen Welttheater ebenso verankert ist wie in der derberen Humoreske unterm Wingert oder im wuseligen Jazz-Universum. Den man aus klassisch-anspruchsvollen Fernsehrollen wie jenen in „Don Carlos“, „Wallenstein“ und der „Glasmenagerie“ kennt, der aber auch in TV-Serien wie „Rote Erde“, „Der Alte“, „Derrick“, „Ein Fall für zwei“, „Siska“ und „Tatort“ zu sehen war. Das Attribut eines restaurativen Volksschauspielers kann ihn nicht treffen, weil sein Agieren zumeist hintergründig angelegt ist, entlarvend denn weinselig verklärend, und er seine Rollen nie vollumfänglich an den Klamauk verraten hat - schon gar nicht an die lautesten Lacher im Parkett. Müsste er zu viel über seine eigene Bedeutung in dieser auch von Eitelkeit und Missgunst geprägten Branche nachdenken, lässt der Grimme- und Kriegsblinden-Preisträger augenzwinkernd durchblicken, dann würden ihn irgendwann Ruhe und Zuversicht verlassen. Kontemplation und Begeisterung aber hat es gebraucht, über achthundert, zumeist ausgezeichnete Hördramen einzulesen, die heute in den Archiven der Rundfunkanstalten schlummern.

In den vergangenen Monaten war er nicht untätig, hat einen alten Zirkuswagen aufgetrieben, etwas überarbeitet und ausgebaut. Irgendwann soll ein professioneller Märchenerzähler damit vor Grundschulen und Kitas vorfahren. Für ihn selbst wäre das nichts mehr, Routine und Sicherheit verspürt er zwar bei Lesungen vor Erwachsenen, mit Kindern aber müsse man „ständig Blickkontakt halten, sonst verlieren die Jüngsten das Interesse und gehen einen von der Leine, da braucht es jahrelange pädagogische Erfahrung.“ Sprachvermittlung im ureigenen Sinne schwebt ihm vor, „der Mensch ist ein sinnliches und rhythmisches Wesen“, sagt er, „die Sozialen Medien und die Kommunikation über digitale Plattformen untergraben langsam die Schönheit der Sprache“ und kappten damit den Zugang zur Literatur. Emojis, Kürzel und verkrüppelte Satzbauten allenthalben - es wäre „ein kultureller Verlust, wenn die Auseinandersetzung mit gesellschaftsrelevanten Themen und Theaterstoffen“ verloren ginge, glaubt Renneisen. Wenn den Menschen die Sprache abhandenkäme, verlören die schnell das Interesse an sich selbst. Noch aber müssen Tausende Spezialschrauben in das betagte Schindelgefährt eingedreht werden, damit er loslegen kann. Walter Renneisen hofft also nicht nur auf Förderer in Spendierhosen, sondern auf Gönner „mit großem handwerklichen Geschick.“

„Lasst uns zusammenkommen und feiern!“ Unter dieses Motto hat Walter Renneisen seine über sechs Jahrzehnte währende Präsenz als Schauspieler gestellt. In dem Jubiläumsprogramm gehen „Der Kontrabass“ (Do., 20.) und „Hessisch für Hessen und Nicht-Hessen“ (Fr., 21.) über die Bühne des Bensheimer Parktheaters. Beide Veranstaltungen beginnen um 20 Uhr. Am Freitagabend kann nach Ende der Vorstellung im Foyer getanzt werden. Informationen zum Gesamtprogramm des Parktheaters sowie mögliche Änderungen hält das Internet unter stadtkultur-bensheim.de/parktheater bereit.

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