Geschlechter-Hopping beim Weltenbrand

Mit „König Lear“ (seit 19. Oktober) hat sich Karin Beier zur Spielzeiteröffnung am Schauspielhaus Hamburg einmal mehr Gender-Kriegen und Flüchtlingsströmen zugewandt. Überzeugender als das überfrachtete Regiekonzept der Hausherrin wirkt allerdings ein prächtig aufgelegtes Starensemble um Edgar Selge, der als untergehender Existenzialisten-König glänzt. Wir haben für die FRIZZmag-Serie THEATERcross-border an der Elbe vorbeigeschaut.

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© Matthias Horn/Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Man kann es sich mit „König Lear“ auch einfach machen. Das vierhundert Jahre alte Werk etwa als populistische Geisterbeschwörung deuten, mit der rechtsextreme Politiker heute den Versuch starten, Europa in die Knie zu zwingen - und den Nationalismus zu neuen Ehren zu verhelfen. Brüssel liefert ja durchaus Bezüge zum Drama des Britenkönigs. Dem zerbröselt sein Reich, das freilich nicht auf Freiheit, sondern vielmehr auf Angst gegründet war, zwischen den Fingern. Ob es sich lohnt, die alte Ordnung zu retten, um einer neuen Ungewissheit das Wort zu reden, wird auch am Hamburger Schauspielhaus nicht eindeutig beantwortet. Zur Saisoneröffnung zeigt Regisseurin Karin Beier jedenfalls ganz viel von der Selbstzerstörung einer Welt, die dem Volk und seinem gealterten König unlesbar geworden ist. Doch wie dieser Auflösung entgegengetreten werden kann, darüber darf auch nach dieser bildmächtigen wie karg eingerichteten Inszenierung der Hausherrin gerätselt werden. Vielleicht ist das nur konsequent in Anbetracht der Tatsache, dass man den Fleißarbeiter aus Stratford-upon-Avon fast inflationär als Kronzeugen aufruft, wann immer vermeintliche Weltenbrände dechiffriert werden sollen.

Als der alte Mann bemerkt, dass er einen Fehler gemacht hat, ist es zu spät. Er hat sein Erbe den beiden älteren, heuchlerischen Töchtern überlassen statt der jüngsten, die ihn aufrichtig liebt. Intrige, Hass und Mord werden schnell gesellschaftsfähig. Erst wird Lear irre darüber, dann weise. Und am Ende sind alle tot. So steht es bei Shakespeare, so kann es im wirklichen Leben passieren. Das macht die Stücke des Alten ja so aktuell. Und so banal. Ständig steht die Frage im Raum, wie es dieser Dummkopf nur einst zum umjubelten Feldherren und Herrscher bringen und das Stück selbst zum Welttheater aufsteigen konnte. Bei seinem kurzen Stuttgart-Comeback hat sich im vergangenen Jahr ein über achtzigjähriger Claus Peymann gleich jeder gesellschaftspolitischen Deutung verweigert, indem er dem greisen Monarchen eine beginnende Demenz andichtete und seinem alten Schauspieler-Kumpel Martin Schwab gleich ein Alibi für dessen Vertrottelung mit an die Rampe gab. Es wurde ein „Lear“ fürs gehobene Feuilleton, also einer für das Seniorenstift.

An der Elbe spielt nun der große Edgar Selge den Lear. Mit seinen siebzig Lenzen, den jungenhaften Auftreten und den wachen Augen wirkt er eigentlich viel zu rüstig, um der verqueren Logik des Stücks nackt hinterher zu humpeln oder den blinden Flecken der Dramaturgie eine heuchlerische Strahlkraft zu verleihen. Manchmal gewinnt man den Eindruck, dieser Lear macht sich am Ende seiner Tage einen Spaß daraus, aus der Perspektive des siechen Lebenskünstlers heraus zu beobachten, wie sein intriganter Hofstaat mitsamt familiärem Plebs in dieser Tragödie heiß läuft bis aufs Blut. Bei so viel Tiefenentspannung könnte das Verhängnis, Cordelia enterbt zu haben, gleich weniger töricht erscheinen, eher wie der verspätete Bubenstreich eines lebenssatten Gebieters, eine aus den Fugen geratene Welt ein letztes Mal für sich tanzen zu lassen. Dass es ein weltpolitischer Ritt auf der Rasierklinge ist, lernen wir ja nur im Anglistikseminar oder aus dem Kulturteil der Tageszeitung. Bei Shakespeare selbst findet sich hierzu wenig. Eher schon, dass sich das Personal aus Gauklern, Gebietern und Jasagern gerne häufiger als nötig holzschnittartig in der Klischee-Falle des Viktorianischen Theaters verläuft. Selges zur Schau gestellter heitere Irrsinn wirkt in diesem Stereotypen-Panoptikum jedenfalls nur so lange läuternd und sinnstiftend, wie ihn seine Regisseurin die Unbekümmertheit eines fröhlichen Existenzialisten zugesteht. Leider tut Beier das eben zu selten.

Living in a Box? Als politisches Ränkespiel läuft die Travestie-Farce im Bühnen-Guckkasten häufig gegen Wände.

Johannes Schütz weißer Bühnen-Guckkasten gibt Selge zudem wenig Raum für Experimente am kranken Hofstaat, eher lädt die Schachtel zum Rollentausch im Gender-Kampf ein. Weil Beier den Geschlechtern seit einigen Spielzeiten nicht mehr über den Weg traut, dürfen Samuel Weiss und Carlo Ljubek als die kaltherzigen Töchter Goneril und Regan ihr Intrigenspiel um Lears Erbe gleich als  schaurig-schrägen Sängerwettstreit einleiten. Dass sie in einem Kostümierungsmix aus „Ein Käfig voller Narren“ und „Charlys Tante“ um Papas Gunst buhlen, sorgt wenigstens für ein bunt sexualisiertes Fetisch-Gewitter im auditiv schwer zu bespielenden Bühnenraum. Wo die Whitebox die Worte verschluckt, sollte sich das Regie-Konzept, das glücklicherweise ohne Technik-Tamtam auskommt, umso deutlicher einbrennen. Doch hier fehlt es dem Bilderreigen, der etwas zu effekthascherisch zwischen endzeitlichen Phantasmagorien, Travestie-Farce und politischem Ränkespiel hin- und herspringt, an Stringenz und Tiefenschärfe. Nach der Pause gibt’s mehr Karneval in Rio zu sehen als Kabale in vorrömischer Zeit. Immerhin darf Matti Krause seinen Grafen von Kent als identitären Fundamentalisten geben. Mit radialen AfD-Tiraden gegen das Geschlechter-Hopping will er die alte Monarchie zementieren und Lear letztmals untertänig schmeicheln. Und wenn Sandra Gerling als grundböser Edmund scharf den Hass der Jungen auf die Alten in der Gesellschaft markiert, dann darf Lear in Feinripp-Unterwäsche immerhin viril aus seinem Rollstuhl heraus aufbegehren, in dem ihn die Töchter-Brut durch eine Welt schiebt, die der Lahme nicht mehr versteht.

© Matthias Horn/Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Am Ende ist er von Sinnen und seines letzten Totenhemdes beraubt. Dass er als dem Wahnsinn verfallener Ex-Herrscher splitterfasernakt über die Bühne tobt, ist wohl auch den vielen Schauer-Bildern geschuldet, die es zu bewältigen galt. Dazwischen hat Beier auch immer wieder ihr Lieblingsthema eingezogen, die Utopie der Fluchtbewegung. Nur wenn wir uns von Heimat verabschieden, darf Jan-Peter Kampwirth als verstoßener Sohn Edgar irgendwann postulieren, werden wir innerlich frei und fit für die Zukunft. Wer solch Umerziehungs-Hokuspokus schmunzelnd ausklammert, darf sich umgekehrt auf eine moderne Klassiker-Neufassung im kompakten Drei-Stunden-Format freuen. Shakespeares mystisch aufgeladener Sturm, dem Lear in wachsendem Wahnsinn nackt im freien Feld trotzt, besorgt hier die Dusche der bösen Erben per Gartenschlauch. Ein netter Gag auch, die wunderbare Lina Beckmann als enterbte Cordelia und hündisch-unterwürfige Närrin in einer Doppelrolle aufspielen zu lassen. Am Ende wird sich Lear im Schmerz um seine tote Tochter verzehren. Die Zimmerpflanze im Arm des Sterbenden kann hier getrost als Hoffnungsschimmer gedeutet werden. Die grüne Insignie der Macht, sie wirkt selbstredend lebendiger als jeder Kronenkranz.

www.schauspielhaus.de

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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