Medea aus Schlesien

Mit den Inszenierungen von „Rose Bernd“ kann man am Schauspiel Frankfurt und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg die Exhumierung der Theaterleiche Gerhart Hauptmann auch im Spielplan für 2018 bestaunen. Am benachbarten Thalia Theater spielt man mit „Die Weber“ einen weiteren Klassiker. Die FRIZZmag-Serie "THEATERcross-border" beleuchtet in loser Folge herausragende wie überregionale Bühnenkunst

by

Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Der Schlesier war stets ein schwieriger Gast auf deutschen Theaterspielplänen. Gerhart Hauptmann hatte sich einst den Nazis angedient, die wiederrum zeigten ihm die kalte Schulter, belegten seine Stücke zum Teil mit Spielverboten. Den Achtundsechzigern erschien der Nobelpreisträger, dessen Werke erfreulich frei von braunem Gedankengut sind und auch heute noch vor sozialistischer Gestaltungskraft zu beben scheinen, jedoch seltsam suspekt. Ein Emil Nolde der Literatur, Abi-Stoff fürs Bildungsbürgertum. Aber auch etwas fürs zeitgenössische Theater?

Am Frankfurter Schauspiel und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg tritt man gerade den Beweis an, dass ein mehr als hundert Jahre altes Hauptmann-Werk nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. „Rose Bernd“ bleibt Emanzipationsdrama durch und durch, schon weil die Titelfigur darin nur ihrer natürlichen Lust frönt und etwas beansprucht, wofür sich Männer bis heute brüsten. Die Frau hat Sex vor der Ehe, in ihrem Fall mit dem hilflos zitternden und verkrüppelten August, der sich am Ende verleugnen wird. So nimmt das Drama Fahrt auf: Rose wird ohne Trauring schwanger, und am Ende so unter Druck gesetzt, bis sie ihr Kind tötet und sich selbst richtet.

In Hamburg belässt man es nicht beim Medea-Motiv in Moll. Hauptmann selbst hatte 1903 als Geschworener über das Schicksal einer jungen Kindsmörderin zu entscheiden und ertränkte kurz darauf sein real anmutendes Sozialdrama in reichlich naturalistischem Idealismus. Seine Regisseurin Karin Henkel deutet die alte griechische Menschheitstragödie nun zu einer von Industrialisierungsverlierern um.

Rose im Würgegriff einer archaischen Gesellschaft

Das Spiel im Maschinenraum des Frühkapitalismus geht auf, weil Lina Beckmann ihrer Rose im abgewetzten Trachtenkleid Würde verleiht. Ihr rausgerotzter schlesischer Kunst-Dialekt wirkt auf der von einem Stahlskelett überwölbten Bühne wie das letzte zivilisatorische Aufbegehren in einer Endzeitvision. Die Gesellschaft hat ihre Freiheit der Düsternis in Taubenschlägen, Dorfkirchen und muffigen Fabriken geopfert. Die Frau des Bürgermeisters vegetiert halb gelähmt in einem viel zu kleinen Sprossenbett, eine Schar junger Männer schleift rhythmisch ihre Sensen. Bildmächtig und wuchtig finden sich Gruppen im Chor zusammen oder zum stummen Gebet. Die Hamburger Inszenierung liefert starke Bilder für Armutsdruck und Bedrängnis, soziale Kontrolle einer verrohten Gesellschaft mit archaischen Regeln. Wenn Rose hier die Freiheit des weiblichen Körpers propagiert, wirkt es natürlich wie ein Witz. Aber als einer, der Hoffnung verheißt.

Der Zukunftsglaube fällt in Frankfurt im wahrsten Sinne des Wortes von der ersten Minute an von der Decke. Eine karge, entmenschlichte Bühne, nur goldene Schnipsel rieseln leise für zweieinhalb Stunden auf die soziale Ausweglosigkeit und das patriarchale System. In Frankfurt, inmitten entfesselter Kapitalmärkte und weltweit operierender Großbanken, muss man Hauptmanns Personal nicht erst neu verorten, und so spendiert der Hausregisseur Roger Vontobel, den der neue Intendant Anselm Weber aus Bochum mitbrachte, ihnen gleich zu Beginn einen Goldregen, der zynisch für die Sehnsucht nach Erlösung an den Kapitalmärkten und den anschließenden Spott zugleich steht.

An der Alster wird die Monstrosität der Gleichstellungsverweigerer noch blutig wie auf einem Rammstein-Konzert verhandelt, am Main sieht man die hingegen schon die übereifrigen Börsen-Broker in Nadelstreifen interagieren. Einander gewogene Männerbünde, die sich Rose Bernd gegenseitig wie einen hochspekulativen Aktienfonds zuspielen. Jeder will etwas von ihr, der Vater, der künftige Ehemann August Keil, der angesehene Liebhaber Christoph Flamm, der missgünstige Emporkömmling Streckmann. Doch weil jeder sie bloß benutzt, geht es dabei nie um Liebe, nur um Macht und Schadensbegrenzung.

Frankfurter Erlösung durch Goldregen, Polka nach dem Börsencrash

Vontobel macht nicht wie zuweilen seine Hamburger Kollegin den Fehler, dass er die existenzialistischen Fragen an jene der aufkeimende Arbeiterbewegung zu Zeiten Hauptmanns kettet. Bei ihm geht es zwar auch ums Überleben, aber die schmissige fünfköpfige Tanzkapelle schmettert schon mal die Polka für den Neustart nach dem Börsencrash. Und er hat in Jana Schulz eine Mimin, die sich jedem Weiblichkeitsklischee verweigert, in dem sie Rose nicht als heroische Kämpferin anlegt, sondern als versehrtes Wesen, das ahnt, dass es in dieser Welt sein Glück nicht findet. Die Wahrung des schönen Scheins ihrer Peiniger wird Rose jedenfalls nicht verinnerlichen, um ihr Leben zu retten, ihr Aufbäumen wirkt verstockt und doch würdevoll, ihr Scheitern konsequent.

Wie man mit einer Groteske in Zeiten des Turbokapitalismus grandios scheitern kann, zelebriert Kornél Mundruczó nur ein paar Häuserblocks vom Hamburger Schauspielhaus entfernt. Der Ungar dreht normalerweise Filme, und weil man sich am Thalia Theater seit einigen Jahren mit üppigen Videoprojektionen (zuletzt beeindruckend mit „Das achte Leben“) einen Namen gemacht hat, ließ man ihn im Rahmen des Großfestivals „Theater der Welt“ wohl freie Hand bei Hauptmanns „Die Weber“. Oder sollte man besser sagen: Nach einem Stück von Hauptmann? Denn was es vom realen schlesischen Weber-Aufstand 1844 in die Hansestadt geschafft hat, lässt sich knapp als krude Mixtur auf der zweistöckigen Bühne zusammenfassen: Unten schuftet sich eine Kinderarmee an Billigtextilien ab wie einst die Sklaven aus der „Mad Max“-Schweinehölle „Bartertown“, darüber sieht man die reichen Pfeffersäcke in einer Edelboutique die Goldbarren horten. Filmszenen auf großer Leinwand, wüste Percussion-Momente durch Jung-Darsteller sowie Opernmusik und Pop-Singsang. Das alles meist in schlesischem Dialekt, der des besseren Verstehens wegen auf der Leinwand untertitelt wird.

Das Thalia Theater zeigt „Die Weber“ zwischen Elendsmilieu und Elbchaussee

Mundruczó weiß aus dem Spannungsverhältnis von Elendsmilieu und Elbchaussee, klackernden Nähmaschinen und klingenden Kassen kein schlüssiges Regiekonzept abzuleiten. Zumeist prangert er die unmenschlichen Produktionsbedingungen in der Textilbranche an, wenn er eine Jeans für „nur zwanzig Euro“ fürs Publikum verscherbelt, nur um im Anschluss die Perversion der Preisfindung im Obergeschoss der Bühne auf die Spitze zu treiben: Im Showroom, der gleich neben dem schicken Rathaus funkelt, „bringt so ein Teil dann locker zweihundert Euro“. Danach wird der Ladenpreis noch einmal durch derzeit angesagtes Zerfetzen und Verschmutzen auf realistische fünfhundert Euro hochgeschraubt. So geht Kapitalismuskritik im Volkshochschulseminar.

Der Abend mündet in einen zerstörerischen Sturm der ausgebeuteten Arbeiter auf die Hamburger Luxusboutique ihres Chefs. Der mit vergoldetem Marmor und Edelblumen veredelte Laden stürzt in sich zusammen. Aber eigentlich ist es nur das Kinderheer, das über seine Zukunft entscheidet und Statussymbole der Erwachsenenwelt zerdeppert. „Die kleinen Strolche“ zelebrierten das einst im Schwarzweiß-Fernsehen überzeugender und Herbert Grönemeyers frühpubertäre Befreiungshymne „Kinder an die Macht“ ermüdete nur knappe vier Minuten. Langweilig wird es im Thalia natürlich nicht, aber um zu packen, hätte es dann doch den ganzen Hauptmann bedurft.

www.schauspielfrankfurt.de

www.thalia-theater.de

www.schauspielhaus.de

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - stets überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein - selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

Back to topbutton