Lauschen am Puls des Leidens

„4.48 Psychose“ als Wiederaufnahme am Deutschen Schauspielhaus: Julia Wieninger verhilft Sarah Kanes letztem Stück zu einer späten Rehabilitation. Gebannt haben wir in Hamburg für die FRIZZmag-Serie "THEATERcross-border" gefröstelt.

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© Stephen Cummiskey

Schneeregen an der Alster, drinnen empfängt der Malersaal mit betongrauen Ästhetik. Wenn die Stimmung richtig im Keller ist, wird es Zeit für eine Sarah-Kane-Inszenierung. Wie hier auf der Werkstattbühne im Bauch des Deutschen Schauspielhauses, wo das Tosen des Temperaments und das Frösteln im Gemüt garantiert sein sollten. Die Schlechtwetter-Poetin der englischen Dramatik hat mit „4.48 Psychose“ ihr Vermächtnis hinterlassen, ein sehr persönliches Selbstmordpoem, entstanden nur Wochen bevor sich die 28-Jährige 1999 in einem Londoner Hospital erhängte. Die Premiere ihres fünften Stückes erlebte sie nicht mehr. Seit ihrem Freitod betrachtet man auch die zahlreichen Splatterszenen und die vielen abgeschnittenen Genitalien in ihren früheren Werken in einem milderen Licht, weil sie als Ausstülpungen einer kranken Seele gedeutet werden dürfen, als Alibi dafür, auf der Bühne alles zu zeigen und alles zu sagen, wonach der normale Verstandesmensch händeringend nach Erklärungen sucht. Einen Freibrief für den Irrsinn gibt das Stück gleichwohl an ihre Protagonistin weiter. „Sie können nichts dafür. Sie sind krank“, heißt es dort irgendwo.

Aber was heißt schon Protagonistin? Die 1971 geborene Kane hat uns einen kruden Textbrocken vor die Füße gerollt, ein dunkles Gedicht direkt aus dem Feuer menschlicher Synapsen, eine hochpoetische Bestandsaufnahme und ein sehnsüchtiger Aufschrei. Eine Aneinanderreihung von Monologen, Zahlen und Wortketten, die keinem dramatischen Personal zugeordnet werden können. Zahlreiche Regisseure haben diese literarische Verdichtung von mehreren Personen spielen lassen. Wohl autobiographisch verweist der Stücktitel auf den Augenblick der größten Klarheit einer Psychiatrie-Patientin: 4 Uhr 48, ein Moment zwischen zwei Medikamentendosen, wo die Tablettenwirkung in den Hintergrund tritt und die Einsicht einzieht, die vielleicht zugleich Wahn ist. Es sind diese kurzen Tagesphasen, in denen wohl auch die Autorin in ihrem letzten Winter noch die Kraft zum Schreiben fand. Doch worum geht es? Depression, Burnout, eine Stoffwechselstörung? Oder vielmehr um die logische Schlussfolgerung beim Betrachten unserer Welt mit offenen Augen und offenem Herzen?

Sarah Kane seziert Fleisch und Geist einer Erkrankung, die selbst Aufgeklärte zutiefst irritiert, lauscht dem Puls eines Leidens, von dem Millionen von Menschen betroffen sind, das irgendwo zwischen Biochemie, Psychologie und Philosophie angesiedelt scheint. Es ist eine finale Schlacht, auf die „4.48 Psychose“ blickt: Der Krieg eines Menschen mit sich selbst, der Krieg des Bewusstseins. Zu leicht ist es dem Theater seither gefallen, Kanes verstörende Weltanklagen wegzurücken ins Erträgliche, ins allgemein Politische, das den Zuschauer als beschädigtes Individuum nicht betrifft. An den Münchner Kammerspielen sah man schon ein intellektuelles Lady-Di-Mysterienspiel im Dirndl-Style mit Jodeleinlagen, verteilt auf vier Schauspielerinnen. Am Dortmunder Schauspiel sollten Kameras, Scheinwerfer und Beamer einen Resonanzkörper für die Poesie der Britin bilden, das psychotische Bewusstsein für nicht-psychotische Theater-Nerds also visuell und akustisch erfahrbar machen. Es war von Elektronik-Gewittern die Rede, von Mensch-Maschinen und Körpersensoren. Aber auch von Ohrstöpseln.

Innere Kälte als Immunsystem gegen die Eiszeit von außen.

In Hamburg geht man mit dem Steinbruch aus Seelenpein und Weltenjammer klarsichtiger um. Die Bühne ist ein schwarzer Bildschirm, eingerahmt von einem LED-Band. Wenn das Licht auf das Gesicht dieser davoneilenden Frau fällt, ist man auch schon im Zentrum des Abends, denn obwohl man von der wunderbaren Schauspielerin Julia Wieninger über 60 Minuten nicht mehr sehen wird als ihren Oberkörper, ahnt man schnell, dass hier wohl nur eine Gefangene ihrer selbst pausenlos auf der Stelle traben wird. Selbst der Regen vom Bahnhofsvorplatz wird sie hier drinnen einholen, ihr ins Gesicht peitschen, straucheln lassen. Der Theaterguss wirkt wie eine warme Dusche im Vergleich zu der inneren Kälte und Strenge, mit der sich diese Frau gegen die äußere Taub- und Blindheit immunisiert und munitioniert hat. Sie wird einfach weiterlaufen. Nur scheinbar ziellos.

Katie Mitchells Regie konzentriert sich auf eine sanfte Personenführung und die fluiden Geräusche der Großstadt, die Wieninger fast körperlich aufnimmt und innehalten lässt: Hundegebell, das Bremsen einer Straßenbahn, das Zuknallen einer Fahrzeugtür. Ihr eigener Atem, der mit eingespielten Stimmenfetzen korrespondiert, bis der Irrsinn zuweilen zu einer absurden Dialog-Oper anschwillt. Sie wird das alles mit hypersensiblen Ausweichschritten, nervösen Grimassen und dem autistisch-antrainierten Hochschlagen ihres Mantelkragens kontern. Wenn das Selbstgespräch in die Selbstanklage mündet, die Depression schon in der Einbahnstraße des Lebensekels ankert und „die sanfte Psychiaterstimme der Vernunft“ in dieser Frau nur noch als Bedrohung nachhallt, dann wirkt in diesem Theater nichts erzählt und keine Geste gesetzt. Alles ist wahr, wenn Wieninger ihr Gesicht ein letztes Mal mit zitternden Händen liebkost, wie um sich zu vergewissern, dass sie noch lebt. Diese Getriebene spielt nicht auf Zeit, sie ist in der letzten Stunde ihres Lebens auf der Suche nach etwas, das sich nach Rechtfertigung anfühlt. Und irgendein Gefühl braucht es dann schon, um den Akt des Suizids plausibel abzuarbeiten.

Am Ende wird sie versuchen, ihren Psychiater anzurufen, doch immer nur dessen Anrufbeantworter erreichen. Was anfangs noch wie eine analytische Beschreibung des eigenen Gemütszustandes wirkt, artet spät in Raserei aus. „Ich habe die Juden vergast. Ich habe die Araber gekillt“, schreit sie. Wo alle Fakten gegen die Selbsttötung sprechen, ist es am Schluss eine erfundene Monstrosität, die die Selbstauslöschung legitimieren soll. Das Theater der Sarah Kane macht bis heute frösteln. Es muss nicht mal regnen.

www.schauspielhaus.de

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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