Existenz als Gefängnis

Halb expressionistische Großstadtvision, halb analytisches Sozialdrama: Mit Hauptmanns „Die Ratten“ (ab 6. September) eröffnet Schauspiel-Intendant Anselm Weber seine dritte Spielzeit in Frankfurt. Unter dem dyspeptischen Motto „Morgen ist heute - Wie wollen wir leben?“ lassen sich zumeist auch die anderen Saison-Premieren einreihen. Doch es gibt Ausnahmen.

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© Toni Suter

Unter dem Leitspruch „Morgen ist heute - Wie wollen wir leben?“ stellt das Schauspiel Frankfurt in der kommenden Spielzeit die Frage nach den Ängsten und Risiken der Zukunft und lotet die Möglichkeiten aus, handlungsfähig zu bleiben und Verantwortung zu übernehmen. Eigentlich wollte Intendant Anselm Weber seine dritte Saison am Main mit einer Neuinszenierung von Witold Gombrowicz „Yvonne, die Burgunderprinzessin“ eröffnen. Das Stück mit einer Hauptfigur, die sich allen  Konventionen verweigert, stammt aus dem Jahr 1935. Die Inszenierung sollte komplett wortlos daherkommen und gleichwohl als Provokation unter dem Spielzeit-Motto verstanden werden: die Menschen auf und vor der Bühne werden dazu gebracht,  ihre tagtäglichen Selbstinszenierungen zu hinterfragen und zu durchbrechen. Ein mutiger Sprechtheater-Auftakt fürwahr, allerdings ist derzeit fraglich, ob und wann die slowenische Regisseurin Mateja Koleznik ihre Inszenierung realisieren kann, da sie derzeit erkrankt ist. Jammerschade.

Ersatzweise gibt es im Schauspiel jetzt einen starken Klassiker zum Start in den Herbst. Gerhart Hauptmanns berühmte Tragikomödie „Die Ratten“ (ab 6.9.) entstand am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Halb expressionistische Großstadtvision, halb analytisches Sozialdrama, erzählt es von Menschen unter dem Druck unmenschlicher Verhältnisse. Die ausgestoßene Pauline Piperkarcka bringt ein Kind zur Welt, das sie nicht behalten kann, weil es vermutlich sterben wird. Also nimmt Frau John es ihr ab, gibt ihr Geld dafür, dass sie den Säugling als ihren eigenen ausgeben darf. Doch aus Paulines Demütigung erwächst ein bedingungsloser Kampf um das Mündel, um das Recht auf Zukunft, um Hoffnung in einer bedrohten Welt. Felicitas Brucker (Foto), die zum ersten Mal in Frankfurt arbeitet, wirft in ihrer Inszenierung einen modernen Blick auf den Versuch, in einer universell bedrohten Welt Glück zu finden.

Zwischen Buchmesse und dramatischer Bühne: Norwegen zweimal zu Gast in Frankfurt.

Wie können wir Zukunft gestalten, wenn es keine mehr gibt? Wie können wir dem Gefängnis der Existenz entkommen? Diese Fragen werden in Jean-Paul Sartres „Geschlossener Gesellschaft“ gestellt. Regisseurin Johanna Wehner will diesen modernen Klassiker als Psychothriller auf die Bühne bringen und damit am 30. November Premiere feiern. Darf der Sartre-Text  noch als düstere Vision durchrutschen, weißt ein antiker Stoff ab 22. Februar des kommenden Jahres nach Auswegen aus der Gewalt-Spirale: Jan-Christoph Gockel will mit seiner Deutung der „Orestie“ von Aischylos auf der großen Bühne des Schauspielhauses untersuchen, wie Gesetz und Recht unter der Allmacht eines metastasierenden Finanzkapitalismus überhaupt durchsetzbar sind.

© Christoph Mack

Norwegen wird sich nicht nur als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse präsentieren, auch das nordische Drama findet seine künstlerische Entsprechung im Schatten der benachbarten Bankentürme: „Wieder da“ von Friedrich Brattberg erlebt ab 7. September seine deutschsprachige Erstaufführung  unter der Regie von Kornelius Eich im Bockenheimer Depot, und Ibsens „Brand“ wird unter der Spielleitung von Roger Vontobel ab 12. Oktober im Schauspielhaus zu erleben sein. Der Schweizer Hausregisseur wird auch John Steinbecks „Früchte des Zorns“ (ab 22. März 2020) dramaturgisch bearbeiten, ein weiterer Romanstoff findet ab 15. November mit „Und es schmilzt“ der Niederländerin Lize Split unter der Regie von Heike M. Goetze seine Uraufführung in den Kammerspielen.

Bei so viel literarischen Überschreibungen und düsteren Endzeitvisionen könnte ein Nick-Cave-Abend mit Katharina Bach fast als Stimmungsaufheller durchgehen. Die fabelhafte Ensemble-Schauspielerin und Sängerin möchte mit ihrer Band aka bitchboy laut Pressetext eigene Textskulpturen und ein Konglomerat aus Songs des melancholischen Australiers in den Theaterorkus dreschen: „The Fe.Male Trail“ hat am 13. September Premiere.

Infos über das Gesamtprogramm des Frankfurter Schauspiels in der Spielzeit 2019/20 hält das Internet unter www.schauspielfrankfurt.de bereit.

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