Am Tisch mit Fidelio

Die „Fidelio“-Aufführung am Staatstheater Darmstadt (ab 26.10.) ist eine starke Zeitreise durch die historischen Inszenierungen dieser Oper - auch weil das große Finale diesmal nicht auf der Bühne stattfindet. FRIZZmag gibt einen Einblick auf die weiterentwickelte Übernahme vom Theater Bremen.

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© Privatarchiv

Es ist ein wirklich starkes Konzept, mit dem sich der junge Regisseur Paul-Georg Dittrich (Foto) Beethovens einziger Oper genähert hat. Er nimmt den Zuschauer gleich im ersten Akt mit auf eine Zeitreise durch die Welt- und Theatergeschichte und dockt diese an frühe historische Inszenierungen des „Fidelio“ an. Dabei verknüpft er Wendepunkte der Weltgeschichte mit dem Missbrauch dieser gern zu Repräsentationszwecken aufgeführten Oper. Auch Annette Schlünz musikalische Bearbeitung für das Darmstädter Staatstheater will die bahnbrechende Rezeption der vom Theater Bremen übernommenen Produktion fortschreiben. Schon der kränkelnde und beinahe taube Bonner Komponist hatte seine dramatische Vertonung ja als Befreiungs- und Rettungsoper konzipiert - und die gilt heute mehr denn je als ein Fanal für die Einmischung und Teilhabe an politischen Prozessen.

Dittrich will den Gehalt und die Handlung des „Fidelio“ auch in Darmstadt in keiner Sekunde antasten, vielmehr den fortlaufenden Missbrauch in seiner Inszenierung nachspüren, um schließlich zum heutigen Freiheitsbegriff zu gelangen. Die derzeitigen Gefängnisse sind ja unsichtbarer als zur Entstehungszeit der Oper um 1814: „Wenn alles möglich ist, kann die Freiheit selbst zum Zwang werden“, erzählt der Regisseur. Vielleicht liege es auch mehr an uns selbst, unsere und Florestans Fesseln zu lösen. Bei dessen Suche steht Leonore (Katrin Gerstenberger) von Anbeginn auf der Bühne unter Hochspannung, fungiert als eine Art Spielmacherin, wenn sie ungeduldig das Bühnenbild verschieben will, nur um zum nächsten Schauplatz zu gelangen.

Lenin, Hitler, Studentenunruhen - den zeitgeschichtlichen Bezug stellt der Spielleiter häufig über Videos her.

Die Handlungsorte werden dabei von der Bühnenbildnerin Lena Schmid eindrucksvoll stilisiert. Da blitzt das Theatre-Lyrique mit seinen postkartenartigen Standbildern wie ein Gruß aus vergangenen Biedermeier-Zeiten auf, und bei Leningrad wird die Szene mit dem die Treppe runterkrachenden Kinderwagen aus dem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ zitiert. Die Stadt Aachen führt uns direkt ins finstere Herz der NS-Diktatur. Auf der Bühne sind Bänder mit der Aufschrift „Zum Geburtstag“ zu sehen. Gemeint ist die „Fidelio“-Aufführung am 20. April 1938 zu Hitlers Wiegenfest. Dittrichs Kassel hingegen erinnert bereits an die APO-Zeit mit einem Hörsaal voller aufmüpfiger Studenten, und schließlich wird eine frühere Bremer Kresnik-Inszenierung mit Aldi-Tüten und den Arbeitern von der damals pleitegegangen Vulkan-Werft ins Feld geführt. Den zeitgeschichtlichen Bezug stellt der Spielleiter dabei häufig über diverse Videos her. Lenin, Hitler, Trümmerfrauen, Studentenunruhen und der unvermeidliche Mauerfall - all das flimmert in überzeugender Dosierung und bester Absicht über die Leinwand.

Und es überzeugt zumeist auch künstlerisch, wenn etwa ein Teil der Zuschauer im zweiten Akt wie bei Leonardo Da Vincis „Abendmahl“ an jenem Tisch sitzt, an dem auch Florestan (Heiko Börner) diniert - ein Knast der besonderen Art. Zum Finale werden sich dann alle Akteure im oberen Theaterrang versammelt haben. Dass auf der Bühne nicht mehr viel passiert, ist ein weiterer schöner Kunstgriff am Ende dieser retrospektiven Weltreise.

Beethovens Oper „Fidelio“ steht ab 26. Oktober auf dem Spielplan des Staatstheaters Darmstadt. Aufführungen im Großen Haus sind derzeit bis zum Frühjahr 2020 terminiert. Weitere Infos und Tickets über das Gesamtprogramm der Spielzeit 2019/20 hält das Internet unter www.staatstheater-darmstadt.de bereit. Wer in den Genuss einer begrenzten Anzahl von Bühnenplätzen kommen und damit eventuell Teil der Handlung werden möchte, sollte dies an der Theaterkasse erfragen oder bei der Ticket-Bestellung angeben.

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