Im Schattenreich der Selbstlosigkeit

Bastian Krafts Bühnenbearbeitung von „Dancer in the Dark“ (ab 29.12.) setzt als Wiederaufnahme am Hamburger Thalia Theater ganz auf karge Reduktion und wenig Licht. Das schafft schon zu Beginn der neuen Spielzeit überraschende Einblicke in Lars von Triers Dogma-Melodram, schwärmt die FRIZZmag-Serie "THEATERcross-border".

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© Krafft Angerer/Thalia Theater Hamburg

Am Anfang sehen wir mit Selmas Augen - nicht viel. Es ist eine Welt ohne richtige Farben, mit verschwommenen Bildern und vagen Umrissen, die Regisseur Bastian Kraft als intellektuelle Umfassung für seine Inszenierung von „Dancer in the Dark“ am Hamburger Thalia Theater eingezogen hat. Mit Selmas Erbkrankheit, an der sie langsam erblinden wird, tasten sich auch die Zuschauer an die zentralen Fragen der Aufführung heran: Wie nimmt diese Schmerzensfrau Dinge um sich herum wahr? Und ist das bisschen Erhellende, das in ihre Wahrnehmung vordringt, überhaupt der Mühe wert, ausgeleuchtet zu werden? Als irgendwann ein Mann hereinkommt und vier Bildschirme anknipst, sehen wir vier Löcher in einer Wand. Darauf wird als erstes eine Brille zu sehen sein, Selmas letzte Krücke hinüber in ein normales Leben. Doch je mehr dem privaten Glück die Farben ausgehen, desto intensiver wird sich Selma in die bonbonfarbene Welt der Musicals zurückziehen. Es wird eine Flucht ohne Wiederkehr bleiben.

Schräge Klänge statt Klagen, das war auch schon das Stilmittel, mit dem Lars von Trier in vielen Schlüsselszenen seines Films verstörte. Darin spielt Björk die ursprünglich egoistische Frau, die Sünde auf sich geladen hat, weil sie ein Kind zur Welt brachte, obwohl sie wusste, dass diesem das Schicksal der Erblindung drohen würde wie ihr selbst. Am Ende wird sie ihr Leben geben für das Glück des Buben. Die Wackelkamera des dänischen Dogma-Regisseurs intensivierte die Fühlbarkeit des Unglücks, das die Heldin ereilt. Björks unverwechselbare Stimme, wenn sie die Selma singt, und das Pathos der Songs machen diese Geschichte der einfachen tschechischen Arbeiterin in den USA, die schließlich den Opfertod am Galgen stirbt, zum herzergreifenden Singspiel, das vor beinahe zwei Jahrzehnten in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde.

Noch am Galgen wirkt Selma wie eine Botschafterin der Selbstlosigkeit.

Wer einen so starken Stoff für die Bühne adaptieren will, braucht eine Idee und gute Nerven. Ein Jahr nach Filmstart ließ Burkhard C. Kosminski am Düsseldorfer Schauspiel seine Selma in der Bühnenmaschinerie Achterbahn fahren. Ein paar Neonröhren tanzten Ballett, die Drehbühne spielte mit den Hubpodien und ermöglichte rasche und reizvolle Verwandlungen. Doch so schnell wie der Schnitt beim Film, so manipulativ wie von Triers subjektive Handkamera-Bilder kann Theater trotz aller Imaginationskraft nicht sein. Es ist ein Kino von Qual und Gnade, ein Mix aus Doku-Drama und Avantgarde-Schmonzette, das der Däne etabliert hat, getragen von dem Reflex auf die Spaßgesellschaft und der Sehnsucht nach religiöser Reinigung in einer kalten Maschinenwelt. Selmas fortwährende Flucht ins Liedertheater und in den amerikanischen Tanzfilm geriet nachfolgenden Bühnenbearbeitungen vielfach zum Fluch: Aus dem Gleichmaß einfacher Fabrikgeräusche, etwa dem Stampfen der Maschinen, entwickelten sich irgendwann rhythmische Klangspiele, bei denen sich das Licht veränderte und die Menschen zu steppen begannen. Selten lagen Kunst und Kitsch im Sprechtheater so dicht beieinander wie bei „Dancer in the Dark.“

© Krafft Angerer/Thalia Theater Hamburg

Bastian Kraft erzählt die Geschichte einer Mutter, die sich für ihren Sohn opfert, weil sie sich schuldig an seiner Krankheit fühlt, ganz auf diesen Kern reduziert. Auf der Thalia-Nebenbühne in der Gaußstraße hat er Selma am Ende in einen winzigen Guckkasten eingepfercht, aus dem heraus ihr blasses Gesicht riesengroß auf eine Leinwand gebannt wird, nun mit der übergroßen Brille als sinnlos gewordenes Accessoire. Wo das Licht fehlt, wirkt schon eine kleine Flamme wie eine Sonne. Und wo das Wunder der sparsamen Lichtgestaltung Schatten wirft, darf die starke fünfköpfige Spieltruppe die Geschichte umso konzentrierter auserzählen. Vom gutmütigen Mechaniker Jeff (Paul Schröder), der sich rührend um Selma sorgt. Von deren Freundin Kathy (Victoria Trauttmansdorff), die immer mehr Mühe hat, Selmas gefährlichste Fehler bei der Arbeit am Metallofen zu verhindern. Oliver Mallison spielt Bill, den Polizisten, als arme Sau. Nachdem er Selmas Geld gestohlen hat, bittet er sie, ihn zu töten. Noch als Selma zum Galgen wankt, wirkt sie nicht wie eine Mörderin, sondern wie eine Botschafterin der Selbstlosigkeit. Regisseur Kraft hat sich von dieser poetischen Weltflucht, die harte Realität in pure Poesie verwandelt, forttragen lassen. Selmas Erschaffung von Lebensqualität als letzten Rückzugsort spiegelt sein Theater immer auch als einen Akt purer Kreativität.

Als Licht ins Dunkel der Inszenierung kommt, sind alle Urteile gefällt und Schicksale besiegelt. Schade.

Leider schlachtet Kraft die Möglichkeiten seiner sparsam eingesetzten ästhetischen Mittel über Gebühr aus. Der Kniff der Regie, Selmas Handicap für uns Zuschauer erfahrbar zu machen und einen Großteil der Handlung durch die Restlichtverstärker der Infrarotkameras zu jagen, trägt nur episodisch. Die Idee, dass sich dieses Breitwand-Panoptikum erst emotional erschließt, wenn der Zuschauer es durch den verengten Guckkasten einer Leselupe betrachtet, wirkt kaum erhellend - es rüttelt nicht einmal an den tradierten Sehgewohnheiten beim Medium Film. Denn je mehr sich dieses Theater von seiner starken dreidimensionalen Erfahrbarkeit entfernt, desto hilfloser wirken auch die Anleihen beim Fernsehen, dessen Möglichkeiten sich bereits erschöpfen, wenn wir Selmas blutende Hände schemenhaft unter der fauchenden Presse abtauchen sehen und nur eine vage Ahnung davon bekommen, wie das umherstehende Personal nachfolgend interagieren wird. Als Licht ins Dunkel der Inszenierung kommt, sind alle Urteile gefällt und Schicksale besiegelt. Schade, ein wirklich feines Hamburger Ensemble hätte eine stärkere Ausleuchtung verdient gehabt als jene im Stil eines Hörspiels mit verrutschter visueller Untertitelung.

Die fabelhafte Lisa Hagmeister trägt dennoch diesen Abend, der zu Tränen rührt, obwohl er so karg erzählt wird. Wenn wir sie Tag und Nacht in der Fabrik schuften sehen (oder besser gesagt: eine Ahnung davon bekommen), um das Geld für die Augenoperation ihres Sohnes zusammenzukratzen, dann werden wir mit ihr an die Schmerzgrenze psychischer Erfahrbarkeit herangeführt. Für die „Tatort“-Rolle einer jungen Mutter, deren Baby ums Leben kommt, erhielt Hagmeister einst den Deutschen Fernsehpreis. Jetzt steht sie im dünnen Lichtkegel neben einer Maschine, die sie nicht bedienen dürfte, und summt sich hinein in die Happy-End-Welt schnulziger Tanzrevuen. Wenn Hagmeister singt, dann denken wir freilich ein einziges Mal wehmütig an die isländische Erstbesetzung im Kino zurück. Die eisige Multimediakünstlerin Björk bleibt als Interpretin ihrer eigenen schrägen Songs dann doch eine uneinnehmbare Festung.

www.thalia-theater.de

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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