Geocaching im Plastikmüll

Mit Roland Schimmelpfennigs „Die Straße der Ameisen“ als deutschsprachiger Erstaufführung setzt man am Schauspiel Kiel in dieser und der kommenden Spielzeit die intensive Auseinandersetzung mit Deutschlands produktivstem Dramatiker fort. Die FRIZZmag-Serie "THEATERcross-border" kann über einen gelungenen Spaß im Umgang mit einer codierten Phantasmagorie berichten.

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© Olaf Struck

Roland Schimmelpfennigs Stücke leben von Zeitsprüngen, Ortswechseln und Identitätsmetamorphosen. Komplexe Figurenzeichnungen sind nicht überliefert. Sein Erfindungsreichtum wandert bei ihm in den Bau und die Konstruktion seiner Werke, während die Handelnden auf ihre einfältige Sprache zurückgeworfen werden. Ein weiteres Merkmal seiner Dramatik ist die stolze Kargheit der Mittel. Der Göttinger Vielschreiber hat es geschafft, sein Publikum, das zuweilen an die überladene Erzählform des Blockbusterkinos konditioniert ist, durch die Abwesenheit von Geschmacksverstärkern und Imponiertechnik zu betören: Bei ihm wird immer etwas behauptet, ungefähr so, wie sich der Erzähler früherer Jahrhunderte auf den Dorfplatz gesetzt hat und es der Vorstellungskraft seiner Zuhörer überließ, die Geschichte durch die Macht der eigenen Fantasie zu bezeugen. Ein Bänkelsänger beim Marsch durchs Sprechtheater.

Auch „Die Straße der Ameisen“, Schimmelpfennigs jüngster Streich, wirkt so, als werde einem Publikum bloß berichtet. Am Schauspiel Kiel, wo man die Auseinandersetzung mit den Werken Schimmelpfennigs pflegt, sieht man einer Familie und dem Freund der Tochter dabei zu, wie sie sich durch die flirrende Nacht in einer tropischen Stadt schwitzen. Folgerichtig feierte die dampfende Versuchsanordnung kürzlich in Havanna eine stilgerechte Uraufführung. Jetzt haben sich die kleinen Hautflügler auf ihrer Ameisenstraße in einer Küche an der kühlen Kieler Förde verlaufen.

Ein selbstironisches Ensemble gibt dem retrospektiv erzählten Mysterienspiel augenzwinkernd Zucker.

Ein Paket, das nach 42 Jahren zugestellt wird, wird diesmal Schimmelpfennigs Imaginationsmaschine anwerfen. Die dramaturgische Feinmechanik wird über 90 Minuten pflichtschuldig arbeiten, weil sich Claudia Macht als Großmutter, Ellen Dorn und Claudia Friebel als Tochter weniger als Schauspieler begreifen, mehr als Zeitarbeiter in einer traumgetriebenen Erzählfabrik. Schimmelpfennigs liebgewonnene Masche der Kolportage von Nachrichtet wird ausnahmsweise einmal nicht zum Drama eines Dramas. Das liegt hauptsächlich an der gut gelaunten Familienaufstellung, die dem retrospektiv erzählten Mysterienspiel augenzwinkernd Zucker gibt.

© Olaf Struck

Wenn Ellen Dorn als Mutter aus dem angetragenen Werbekalender magische Kräfte schöpft, dann umwehen die nur karg mit einer Couch möblierte Kieler Bühne auch Ovids Metamorphosen, nach denen die Banalität der Dinge eine jeweils andere Bedeutung erhält, wenn diese aus sich selbst heraus zu sprechen beginnen. Mithilfe der Magie eines Kugelschreibers schummelt sich Jasper Diedrichsen als Freund der Tochter etwa als neuzeitlich-poesiebegabter Peer Gynt durch die Favelas. Und wenn seine Angetraute (Claudia Friebel) als akrobatische Zirkusschönheit auf einem Gerüst über einem Meer von Wegwerfflaschen turnt, wird gleich die intellektuelle Fallhöhe des Abend augenfällig: Des Leben neben der Müllhalde ist nur so lange erträglich, wie der Kitsch der Telenovelas auf die Realität abfärbt und die eigene Fantasie als eine Art Geschäfts- und Überlebensmodell taugt. Dass die Vitalität von Schimmelpfennigs Kopfgeburten stets angetragen wirkt oder mitgedacht werden muss, hat zwar noch jede seiner Figuren aufs Papierformat zurückgeworfen. Wie man in Kiel aber das dräuende Sozial- und Umweltdrama selbstironisch umspielt und mit den Mitteln einer angedeuteten Burleske dennoch authentisch abbildet, das verdient Respekt.

Märchenhafte Chimären ersetzen protzige Bühnenbilder.

Der Charakter eines Menschen, so hieß einst die eherne Theaterregel, erweise sich in seinem Tun. Heute zeigt uns das moderne Drama mittels untertouriger Rhetorik und einer Ästhetik des Wartens die Unmöglichkeit des Handelns. Weil sich auch in der norddeutschen Landeshauptstadt kein Charakter herausschälen muss, will uns Schimmelpfennig und seine Regisseurin Ulrike Maack lieber gleich den Mangel erträglich machen, versüßt durch diverse Phantasmagorien: Die „Straße der Ameisen“ wird beherrscht von märchenhaften Erzählpassagen, die immerhin nicht durch protzige Bühnenbilder oder aufwendige Effekte beglaubigt werden müssen. Scheinbar banale Requisiten künden hingegen von den letzten Tagen einer untergegangenen Welt. Ein billiger Kugelschreiber, ein zehn Jahre alter Taschenkalender, eine blonde Perücke, winzige Probepackungen mit Waschmittel, kein Brief, dafür ein leeres Senfglas, eingewickelt in eine alte Zeitung, verfasst in einer Sprache, die keine Sau versteht. Ist der Inhalt der Postwurfsendung in Kiel erst einmal decodiert, darf zu neuen Rätseln der Menschheitsgeschichte aufgebrochen werden. Das wirkt am Anfang anregend wie Geocaching durch den Literaturbetrieb, am Ende immerhin noch unterhaltsam wie pubertäre Schnitzeljagden, die wir einst im Jugendrausch zu Sauforgien pimpten.

Schimmelpfennigs Theater gehorcht dem Matroschka-Prinzip, jenen bunt bemalten, ineinander verschachtelten russischen Holzpuppen, die als letztes Geheimnis eben nur das jeweils kleinere Abbild ihrer selbst als Lösung anzubieten haben. Diesmal ist es eben eine Meldung in besagter Zeitung, die magische Dinge geschehen lässt und die Vernunft auf den Kopf stellen soll. In immer neuen Anordnungen und Kombinationen spielt der Autor mit Zeit, Zufälligkeiten und sinnstiftenden Erinnerungsschleifen, die das Quartett hier nicht als chiffriertes Requiem in einem Vor und Zurück rezitiert, sondern als buntes Sprachkonzert aus Absurdistan hinauspfeift. Denn im Grunde ist „Die Straße der Ameisen“ wieder die Ausweichbewegung eines talentierten Bühnenautors. Der Versuch, dem Konflikt durch Verzauberung zu entkommen. Immer wenn es ernst zu werden droht, tut sich der Boden, der Himmel oder sonst irgendetwas auf. Wunder geschehen, ein Mensch spaltet sich auf. Oder er entkommt sich selbst. Das Entscheidende wird stets vertagt. Solange Schimmelpfennig den Kämpfen seiner Figuren ausweicht, wird er nur ein sehr produktiver Dramatiker bleiben, aber kein großer. In Kiel macht man sich daraus einen schönen Spaß.

www.theater-kiel.de

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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