Umwerfend schonungslos

Sie ist Publikumsliebling am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und Rampensau in Personalunion, nun ermittelt sie als Dauerdienst-Kommissarin im Rostocker „Polizeiruf 110“. Für ihre Wandlungsfähigkeit erhält Lina Beckmann den Gertrud-Eysoldt-Ring. Festakt und Preisverleihung finden am 21. Mai 2022 (Sa.) im Parktheater Bensheim statt.

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© NDR/Foto: Christine Schroeder

Für das narzisstisch gestörte Kind erfindet Lina Beckmann auf ihrem Schaukelpferd einen berührend beunruhigenden Ausdruck. Immer wieder reitet sie sich in das ungestillte Bedürfnis nach Anerkennung hinein und lässt uns tief in Richards verletzte Seele schauen. Es ist das Elend eines gepeinigten Kindes, das einen niederträchtigen Massenmörder gebiert. Und Lina Beckmann spielt diese Entwicklung mit einer Intelligenz und Virtuosität, die ihresgleichen sucht: zwischen Raserei und Ruhe, wild und zart, schwitzend und immer wieder bedrohlich verstummend in vielsagenden, angstvollen Blicken.

Getrieben von einer geradezu anarchischen Energie, erspielt sich die gebürtige Hagenerin in Hamburg ihren abgründig schillernden Richard. In atemberaubenden vier Stunden entwickelt sie das wahnwitzige Psychogramm einer Figur, die fähig ist, jegliche moralischen Grenzen zu überschreiten. Der Publikumsliebling am Deutschen Schauspielhaus tut dies, indem er sich selbst körperlich und emotional verausgabt mit dieser irren Schonungslosigkeit und einzigartigen Intensität. Auch der Ringelbandstiftung der Stadt Bensheim und der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste sind die physische Präsenz der wandelbaren Frau aus dem Norden nicht entgangen. Für ihre Rolle in „Richard the Kid & the King“ heimste sie nicht nur den Gertrud-Eysoldt-Ring 2021 ein, sondern auch noch den Nestroy-Theaterpreis in der Kategorie „Beste Schauspielerin“. Dass beide Festakte aufgrund der Corona-Pandemie mehrfach verschoben werden mussten, wird der Vielbeschäftigten nicht unrecht gewesen sein, denn eigentlich will sie immer nur eines: fleißig in Rollen schlüpfen.

Besser als Eva Mattes kann man das, was die Schauspielerin Lina Beckmann ausmacht, kaum zusammenfassen: „Sie spricht mit dem Publikum, als wäre sie die Kassiererin in dem Laden um die Ecke, gleichzeitig springt sie einen mit dieser Intensität an, dass man sich verkriechen möchte“. Nie wirkt sie abgehoben, immer nur ganz da. Egal was sie spielt, ihre oft schon schmerzhafte Offenheit macht sie unverwechselbar. Ein Mensch in all seiner Verletzlichkeit, Erbärmlichkeit und unfreiwilligen Komik. Ihr Körper scheint durchdrungen von jeder Bestimmung. Geboren 1981 im Ruhrpott, war sie als Kind so gut wie nie im Theater. Bei einer Schulaufführung habe sie Blut geleckt und sei ziemlich blauäugig ins erste Vorsprechen gegangen. „Dann haben die mich aber sofort genommen“, erzählte sie neulich in der Sendung „titel, thesen, temperamente“. Nie war sie in einer Situation, in der sie nicht wusste, was sie als Nächstes machen sollte, sondern: „Okay, die fanden mich also nicht so schlecht, schauen wir mal, welche Überraschung hinter der nächsten Ecke lauert.“ So sei sie in den Beruf reingewachsen. „Mitgewachsen“, sagt Beckmann.

Wie sich ihr entfesseltes Spiel in ein wiederkehrendes Fernsehformat bringen lässt? „Weiß ich nicht, finde ich noch raus“, sagt Beckmann.

Studiert hat sie an der Westfälischen Schauspielschule Bochum. 2005 erhielt sie den Solopreis des Bundeswettbewerbs zur Förderung des Schauspielnachwuchses. Ab 2007 war sie Ensemblemitglied am Schauspiel Köln. 2011 wurde sie für ihre schauspielerische Leistung in Karin Beiers Inszenierung „Das Werk, im Bus, ein Sturz“ und für die Rolle der Warja in „Der Kirschgarten“ in der Regie von Karin Henkel mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis des Berliner Theatertreffens ausgezeichnet und in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Seit neun Jahren gehört sie nun zum Ensemble des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Für ihre Darstellung in Ibsens „John Gabriel Borkman“ erhielt sie 2015 den 3sat-Preis und wurde für den Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ nominiert. Für ihr Spiel in „Ab jetzt“ konnte sie im selben Jahr den Rolf-Mares-Preis mit nach Hause nehmen, ein Jahr später erhielt sie den Ulrich-Wildgruber-Preis.

© Monika Rittershaus / Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Bald ist sie die neue Kommissarin im Rostocker „Polizeiruf 110“. Melly Böwe heißt dort ihre Ermittlerin, die sie an der Seite von Anneke Kim Sarnau gibt. Der ist Ende letzten Jahres ihr Kommissar Bukow von der Leine gegangen. Charly Hübners markante TV-Figur schien am Ende auserzählt, sein Bulle stand bloß noch unter Notstrom. In Hamburg würden jetzt alle den Charakter des einstigen Poltergeistes und Egoshooters in seine klassischen Theaterrollen hineinprojizieren, beklagte sich Hübner jüngst bei Journalisten, da könne er noch so häufig den Onkel Wanja am Schauspielhaus geben, für viele bliebe er auch als subtiler Bühnen-Handwerker nur der grobe "Polizeiruf"-Klotz von der Küste. Der Wechsel von Bukow zu Böwe dürfte die Figurenentwickler und Drehbuchautoren des Norddeutschen Rundfunk gehörig ins Schwitzen bringen, für Beckmann und Hübner, die nicht nur am gleichen Schauspielhaus engagiert, sondern auch privat liiert sind, erwachsen aus der beruflichen Rochade vor allem neue Verantwortlichkeiten in Sachen Elternschaft.

Natürlich kann die Beckmann Fernsehen. Sie war in mehreren „Tatort“-Folgen zu sehen und in prämierten Fernsehspielen. Wie ihr entfesseltes Spiel sich aber in ein wiederkehrendes Fernsehformat bringen lässt? "Weiß ich nicht, finde ich noch raus", sagt sie, als die erste Folge bereits abgedreht ist. Rausfinden, was in der Rolle steckt, das sei harte Arbeit, auch wenn vieles bei ihr so leicht wirke. Manchmal sage sie sich: "Heute war es nicht gut, aber morgen probiere ich's nochmal". Dann sei sie auf sich wütend und könne den nächsten Tag nicht erwarten. Man weiß nicht genau, ob man ihr einen Gefallen tun würde mit dem Anliegen, sie solle sich doch zukünftig bitte etwas schonen. Denn vermutlich kann diese Frau nichts anderes als einfach weiterspielen. Ungeschützt und umwerfend.

Die Gertrud-Eysoldt-Ring-Preisverleihung sowie die Kurt-Hübner-Ehrung gehen am Samstag, den 21. Mai 2022 über die Bühne des Bensheimer Parktheaters. Wann im Rahmen eines Festaktes auch die vorletztjährige Preisträgerin Sandra Hüller, über die wir an dieser Stelle bereits berichtet haben, geehrt wird, ist ebenso der Tagespresse zu entnehmen wie Änderungen im Programmablauf. Infos und Tickets zur Veranstaltung sowie zum Gesamtprogramm der Bensheimer Kultureinrichtung Parktheater sind zudem über das Internet unter www.stadtkultur-bensheim.de abrufbar.

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