Verkorkste Psyche, voll Karacho

Österreichische Wochen in Mannheim: Im Schauspiel des Nationaltheaters markieren gleich zwei alpenländische Stücke markante Eckpfeiler im aktuellen Spielplan. Ob „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ (seit 27.1.) und „Dosenfleisch“ (seit 26.1.) die Anfahrt an den Neckar lohnen, verraten wir in unserer FRIZZmag-Serie "THEATERcross-border".

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© Nationaltheater Mannheim

Der Österreicher an sich liefert reichlich Stoff fürs große Drama. Eben erst hat mit Sebastian Kurz ein politischer Zauberlehrling mit Mozart-Tolle, Maßanzug und rechter Gesinnung den Wiener Ballhausplatz als Kanzler im Marschschritt genommen. Im Vergleich zum feschen Personal mit dem nationalistischen Zungenschlag wirkt Muttis Weiter-so-Küchenkabinett, mäandernd zwischen diffusen Flüchtlings-Obergrenzen, grenzenloser Multikulti-Dialektik und schwammigen Familiennachzugsregelungen, für den Kunstbetrieb etwa so spannend wie eine Familienaufstellung nach Hellinger. Wen wundert‘s, wenn sich Autoren und Theatermacher südlich von Passau da lieber gleich an der neobarocken Donau-Regierung abarbeiten als am drögen GroKo-Dauerzoff von der Spree. Denkt der Theatergänger an Österreich, denkt er an Jelinek und Bernhard, Handke und Peymann, Publikumsbeschimpfungen und Pimmel. Auch das Geschrei nach dem Finanzskandal am Burgtheater ist in bester Erinnerung. Ganz großes Polittheater mit nachgeschaltetem Satire-Booster eben.

Ferdinand Raimunds romantisch-komisches Zauberspiel „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ bietet auf den ersten Blick wenige dramaturgische Zwischenräume, die scheinbar verkorkste Psyche einer ganzen Nation auf offener Bühne zu sezieren. Seit knapp zwei Jahrhunderten oszilliert das österreichische Gemüt hier zwischen Sentimentalität und Realismus, zwischen Depression und kurzen Gewaltschüben. Wenn Raimunds Held ein Rappelkopf ist, so lässt er sich nur im bewährten Dreiklang der Donaumonarchie kurieren: räsonieren, arrangieren und akzeptieren, was im Abgesang in der schlichten Moral mündet: „Der Mensch soll vor allem sich selber erkennen. Ich hab mich erkannt heute.“ Am Ende steht der Menschenfeind glücklich, nackt und unschuldig wie ein Kind auf der Bühne. Der späten Läuterung wohnt indes die Tragik einer selbsterfüllenden Prophezeiung inne: Der kranke Geist darf erst als geheilt gelten, wenn das Gift seines Misstrauens das Ideal eines funktionierenden Familienverbundes gänzlich zersetzt hat.

Tragische Clowns zwischen Schwermut, Slapstick und Biedermeier-Zitaten.

Der schwer depressive Autor Raimund hatte im „Menschenfeind“ aber auch und gerade sich selber porträtiert. In dem cholerischen Bourgeois spiegelt sich der politisch entmachtete, von unsicheren Geschäften bedrohte Bürger der Biedermeier-Zeit wider. Rappelkopf hält sich für betrogen, selbst die eigene Ehefrau verdächtigt er, ihm nach dem Leben zu trachten. Nach der Flucht in die Ödnis muss er sich vom Alpenkönig Astragalus eine deftige Lektion erteilen lassen: Rappelkopf wird sich in seinen widerwärtigen Schwager verwandeln, um die inkarnierte Menschwerdung im Anschluss glaubhaft durchzustehen. Nach einem Besuch in Mannheim wäre der labile Raimund vermutlich von seiner Schwermut geheilt gewesen, er hätte seine Figuren aber auch nicht wiedererkannt.

Die Österreicherin Susanne Lietzow (Regie) vermeidet alles, um Heimatkolorit aufkommen zu lassen. Verschwunden ist nicht nur der Idiom. Auf Aurel Lenferts mit Plastikplanen abgehängter Bühne wirken Sofa und Kitschbild nur noch wie Postkarten-Reminiszenzen aus dem Biedermeier, eine an den Rand der Karikatur stilisierte Puppenstube, in der ein Kohleklumpen als Gipfelkamm thront. Alpenkönig und Menschenfeind bewegen sich hier mal stilsicher als kiffende Narren, mal als tragische Clowns durch ein Singspiel, das etwas zu häufig von Klamauk und zahlreichen Slapstick-Einlagen eingebremst wird. Boris Koneczny gibt den Rappelkopf glaubhaft als vom Verfolgungswahn geplagten Gutsbesitzer und verbittertes Paranoia-Monster, einsam unter anderen und fremd bei sich selbst. Klaus Rodewalds Alpenkönig spielt den Part des Menschenfeindes hingegen wie hinter vorgehaltener Hand. Mit Sonnenbrille, Leoparden-Outfit und Schwabbelbauch verwandelt sich Rappelkopfs mephistophelischer Therapeut fieberhaft in einen verpeilt-fabulierenden Hippie-Söldner, wie ihn einst Dennis Hopper verstörend luzide in Coppolas „Apocalypse Now“ gab. Auf der Leinwand entwickeln diabolische Figuren mitunter ein enormes Verführungspotenzial, an der Bühnenrampe wünscht man ihnen zuweilen, dass sich der Marihuana-Nebel um ihre weiche Birne rasch verziehen möge. So bunt die innere Verfasstheit einer zerklüfteten Gesellschaft in solchen Protagonisten auch als effektvolles Humor-Feuerwerk abzubrennen scheint, so verkatert und ernüchternd fallt die Analyse in den stillen Momenten bei der Gesamtschau auf das Stück aus.

Das heitere Kunstmärchen entpuppt sich als großartiger Taschenspielertrick.

Was man von diesem heiter vorausschreitenden Kunstmärchen auch an komischen Momenten und Spielwitz in Erinnerung behalten mag - es entpuppt sich beim Nachhauseweg dann doch als großartiger Taschenspielertrick. Ein Gespür für die Mischung zwischen ironisch gebrochener Geister- und fast erodierter Bürgerwelt versprechen diese kurzweiligen hundert Minuten nicht durchgehend. Damit hätte sich aber die Brücke in eine verunsicherte Jetztzeit schlagen lassen.

Einen Theaterabend mit übermütig-albernen Kalauern, derben Splatter-Motiven und durchaus ernster Philosophie hätte man am Nationaltheater eigentlich eher im angegliederten Werkhaus erwartet - und das bekommt man dort mit „Dosenfleisch“ auch irgendwie. Die Studiobühne des Mannheimer Schauspiels fungierte in den vergangenen Spielzeiten erfreulich oft als Heimstätte für schräge Erstaufführungen und bei der Stücke-Pflege diverser Hausautoren. So gesehen ist Ferdinand Schmalz‘ vermeintlich neues Stück zugleich auch ein alter Hut. Der Grazer setzte bereits 2015 seine als Triptychon gedachte Stückanthologie über Lebensmittelmetaphern fort. Nachdem er im ersten Teil („Am Beispiel der Butter“) ökologische mit gesellschaftlichen und lebensphilosophischen Themen kurzgeschlossen hatte, driften seine jüngsten Untersuchungen in „Dosenfleisch“ und „Der Herzlfresser“ ganz ins Fleischliche ab.

© Nationaltheater Mannheim

In seinem Butter-Debüt hangelte er sich hochunterhaltsam von Molkerei-Metapher zu Molkerei-Metapher, von Milch-Wortspiel zu Milch-Wortspiel, und es war wirklich erstaunlich, welch assoziative Wortketten der 33-Jährige ganz nebenbei zu fassen bekam. Diesmal wortspielt er sich durch den Verkehr auf einer Autobahn. Sein Ziel erreicht er auch dort, weil seine Figuren beständig Gas geben und am Asphalt des Theater-Thrillers kratzen. Es sind Raststätten-Philosophen, die die Wirtsstube und das an ihr vorbeirauschende Reiseleben theoretisch erörtern. Und es sind Crash-Fetischisten. Stilecht und kulissenhaft gewandet wie in den Frühwerken von David Lynch, denken sie über nichts so leidenschaftlich und klug nach wie über das Wesen des Unfalls. Das kann man in Zeiten von selbstverliebten Handy-Gaffern verstörend finden, aber auch als Steilvorlage nehmen, den realen PS-Irrsinn auf der Bühne einmal sarkastisch ans Blech zu fahren.

Die Massenkarambolage ist das Handwerk der Crash-Fetischisten, der Total-Infarkt ihr Ziel.

Jacques Malan gibt den verschwitzten Fernfahrer wie aus einem Tarantino-Film, im Karohemd und mit fiebrigem Blick. Der umgekippte Lastwagen eines Kollegen hat ihn zum Halt auf Beates Raststation gezwungen: einer Tanke in der sogenannten Todeszone, in der es zu auffallend vielen Unfällen kommt. Die Schauspielerin Jayne (Katharina Hauter) hat bereits einen Zusammenstoß hinter sich. Beate (Celina Rongen) hat sie in zahllosen Schönheits-Operationen wieder zusammengeflickt. Jetzt sind die Frauen um eine wichtige Erfahrung reicher: Erst im Unfall erkennt man, dass man lebt. Fortan sorgen sie für ein Revival des authentischen Gefühls. Die Massenkarambolage ist ihr Handwerk, der Total-Infarkt ihr Ziel. Wer ihnen in den Weg kommt, wird zu Dosenfleisch gefroren. Erst wenn die Wildnis die Straße zurückerobert, werden sie rasten.

Bei fließendem Verkehr hat die Aufführung dann auch ihre stärksten Momente. Wenn sich der Versicherungsmensch Rolf (Sven Prietz) im Bogart-Trenchcoat auf die Lauer legt, liegt freilich nicht nur der nächste Crash und der Sekundenschlaf in der Luft, sondern auch manch bußgeldpflichtiges Witzchen. Als er das Kühlregal öffnet und ihm statt einer Cola eine Leiche entgegenfällt, ist es für Rolf und uns Zuschauer für eine Flucht längst zu spät. Sei’s drum, seine Freundin Jayne hat uns längst von der segensreichen Kraft der eigenen Trümmerbrüche überzeugt: Einst sah sie sich als „Fleischsalat im Wrack“, als „Dosenfleisch“, wie es deftig im Titel des Stücks heißt, danach „hat mein Ich da im Fleischsalat die strenge Form verloren und man ist erstmal offiziell zu Bruch gegangen, da sieht man die Vielheit in sich, die Möglichkeiten“. Solch ungelenke Psycho-Weisheiten in Höchstgeschwindigkeit lassen den aktuellen Bachmann-Preisträger Ferdinand Schmalz, der eigentlich Matthias Schweiger heißt, schon mal vom Gasfuß rutschen - dann bremst sich der literarischen Highway-Star mit dadaistischem Jugendsprech selbst aus und dreht als Bonanza-Radfahrer absude Ehrenrunden im Kindertheater.

Und sie ermahnen seine junge Regisseurin daran, öfter einen Gang zurückzuschalten, um das Fahrtziel im ratternden Autobahn-Rhythmus und bei unfreiwillig komischen Suspense-Zitaten nicht aus den Augen zu verlieren. In den ruhigen Momenten gelingt es dieser soghaften Kunstsprache umgekehrt nicht durchgängig, glaubhafte Figurenzeichnungen und Beziehungsgeflechte abseits bekannter Mystery-Plots zu entwickeln. Wo Rachsucht, Trieb und Wahn schon den Straßenverkehr diktieren, bleiben menschliche Kollateralschäden nach der Kollision überschaubar.

Die Syntax des Textes trägt das junge Ensemble zuweilen aus der Steilkurve.

Magdalena Schönfeld liefert eine solide Regiearbeit ohne außerplanmäßigen Werkstattaufenthalt ab. Mit Psychologie-Geklingel wird man sie kaum in Verbindung bringen, dafür mit ironisch gesetzter Musikuntermalung. Wenn es ihr junges Ensemble dennoch manchmal aus der Steilkurve trägt, liegt es am Oktanrausch und an der Syntax des Textes, der zudem manches verunglückte Wortspiel und naseweiße Erörterungen bereithält. Hat man sich auf Marina Schuttes bonbonfarbene Einrichtung im Retro-Style amerikanischer Diner erst eingelassen, fällt einen sogleich auch der Standort der verstaubten Carrera-Bahn auf dem heimischen Dachboden wieder ein. Temporeicher kann Theater nun wirklich nicht in die eigene Kindheit entführen.

www.nationaltheater-mannheim.de

FRIZZmag blickt mit seiner Serie THEATERcross-border in unregelmäßiger Folge über den Bühnenrand seines Verbreitungsgebietes hinaus: Was etwa machen eigentlich Regisseure und Schauspieler, die einst in Darmstadt wirkten, heute? Dazu werden spannende Inszenierungen und stimmungsvolle Festivals journalistisch ausgeleuchtet, gibt es packende Ein- und Ausblicke auf das deutschsprachige Theatertreiben und meinungsstarke Kritiken - zumeist überregional und außerhalb des Rhein-Main-Neckar-Deltas. Denn wir glauben: Theater muss sein. Selbstverständlich auch im Urlaub und auf Reisen.

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