Wenn der Desktop zur Bühne wird

Werther im digitalen Raum, Parzival auf Selbstfindungs-Pfaden und Prometheus als Freiheitskämpfer. Das hybride anti.HELDEN-Festival (21. bis 23. November) vereint nur scheinbar Gegensätzliches unterm Dach des Darmstädter Moller Hauses.

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© Agathe Markiewicz

Auf den Leinwänden des Popcornkinos wird man sie kaum finden, und auch auf den Klassiker-Bühnen der Theater machen sie sich rar: Antihelden. Warum bloß? Die Geschichten unserer großen Heroen sind im Grunde auserzählt, so wie jene jede Widrigkeit meistern und ihnen dabei auch noch alles leicht von der Hand zu gehen scheint, mag das ein Glücksfall für die Comic-Branche sein, aber auch eine Chance bei der Neuerweckung des Dramas?

Um den Fokus auf all jene zu richten, denen die Erfüllung ihrer Ziele nicht so leicht fällt, widmet die Darmstädter Kompanie „theater INC.“ ihr Festival den großen und kleinen Zukurzgekommenen: Die thematische Veranstaltungsreihe anti.HELDEN versammelt vom 21. bis 23. November unter dem vielstimmigen Dach des Moller Hauses ein halbes Dutzend Veranstaltungen, in denen Menschen mit ihren Idealen ringen, oftmals Suchende oder Getriebene sind, wie beinahe jeder von uns. Menschen also, die versuchen, das Richtige zu tun, aber nie genau wissen, wie sie es anstellen sollen.

Als erster wagt sich David Pichlmaier ins Reich der großen Gefühle. Den Wanderer aus dem Liederkreis der „Winterreise“ (21.11., 18 Uhr) gibt der Bariton schon seit seinen Jugendtagen. Auf die Romantik lässt er sich gerne ein, weil sich seine heutige Draufsicht auf den Zyklus verändert hat und nunmehr Obdachlose und Ausgestoßene, Randständige der Gesellschaft seine künstlerische Herangehensweise an den Wandersmann geprägt haben.

Uralt ist die Geschichte vom tumben Parzival, den die eigene Mutter fernab der Zivilisation splitternackt und tief im Wald versteckt, der als Schlagetod zum Roten Ritter wird und am Ende doch vom Schicksal ausgewählt wird, den Gralskönig von seinen schrecklichen Leiden zu erlösen. Die Wurzeln dieser Geschichte sind heidnisch, und so kommen sie denn auch wesentlich ohne den christlichen Überbau späterer Zeiten aus, ja sogar ohne alle die anderen Ritter aus König Artus Tafelrunde, denen Parzival für gewöhnlich begegnet. Der Schauspieler Christian Klischat hat das Epos von der Einfalt und den falschen Ratschlägen, die allesamt in Unverschämtheit ausufern, neu eingerichtet. „Parzival - Aus dem Leben des Roten Ritters“ (21.11., 20 Uhr) berichtet von einem, der auszieht, das Fürchten zu lernen. Das Solo erzählt aber auch davon, wie es sich anfühlt, vom Schicksal an fremden Orten ausgespuckt zu werden, um zu sich dort selbst zu finden.

Die Sozialen Medien bringen Goethes Figurentheater nicht aus dem Tritt.

Die Vorlage für Hebbels Tragödie „Judith“ (22.11., 20 Uhr sowie 23.11., 18 Uhr) liefert das gleichnamige Buch aus dem Alten Testament. Getrieben von Liebe zu ihrem Volk, scheinbar grenzenlosem Mut und Opferbereitschaft ist Judith eine wahre Versinnbildlichung der Antiheldin - befreit sie durch den Mord an einem Einzelnen doch ihr ganzes Volk von der Tyrannei. Die Performance der Gruppe Theater INC. stellt die Handlungsmotive der Frau ins Zentrum und versucht zu erforschen, welche Kräfte und Überzeugungen sie zu den Taten bewegt haben könnten, möchte dabei behutsam ihre moralischen Absichten hinterfragen.

Wie verhandelt Werther im 21. Jahrhundert sein Leid, seine Gedanken zum Freitod? Seit einigen Jahren schon stellt sich das Kollektiv punktlive die Frage, wie man neue Wege und Prozesse für das Theater finden kann, die explizit für den digitalen Raum geschaffen sind. Die Produktion „werther.live“ (23.11., 20 Uhr auf YouTube) war vor zwei Jahren der Startpunkt und beschritt neue Wege, indem aus Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ ein packendes Social-Media-Theater wurde. Statt abgefilmter Bühne und Monologen vor der Webcam zeigte das Ensemble, dass digitales Theater eine neue Form des Erzählens ermöglicht. Der Bildschirm wird zum künstlerischen Medium, auf dem Digital Native Werther mit seinen Freunden Text- und Sprachnachrichten austauscht, während die Zuschauer das Geschehen auf dem geteilten Desktop verfolgen. Die Figuren haben Instagram-Profile, der Screen wird zur Bühne, der digitale Raum kann nun auch in Darmstadt in Echtzeit mit den Figuren besucht werden. Lotte und Werther verlieben sich auf eBay Kleinanzeigen, und obwohl sie sich nie persönlich begegnet sind, bringt das Lottes langjährige Beziehung auch hier gehörig ins Wanken.

© Michael Hudler

In Franz Kafkas posthum veröffentlichter Erzählung geht es um die gleichnamige Sagengestalt Prometheus, den Freund und Kulturstifter der Menschen. Da er den Leuten helfen wollte, dafür die Götter verriet und ihnen das Feuer stahl, wurde er von Zeus an den Kaukasus gefesselt und von hungrigen Adlern heimgesucht, die seine Leber fraßen. An der Unsterblichkeit der Tragödiengestalt setzt Kafkas Erzählung an. Marvin Heppenheimers filmisch-monologische Inszenierung mit Lennart Gottmann in der Titelrolle und Christian Klischat als Sprecher wirft konträre Aussagen über das Ende von „Prometheus. Der Film“ (21. bis 23. 11., ganztags auf YouTube) in den Raum. Allem voran die große Frage: Was ist Freiheit?

Im Anschluss an ausgewählte Programmpunkte bieten die Veranstalter thematische und inszenierungsbasierte Nachgespräche mit den beteiligten Künstlern im Foyer des Theaters an. Die Moderation übernimmt Petra Schlesinger.

Weitere Infos zur Veranstaltungsreihe „anti.HELDEN“ finden sich auf der Homepage des Veranstalters Theater INC. und dem Internetauftritt des Theaters Moller Haus.

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