Anpfiff zur Premiere

Den Titel seiner Lebenserinnerungen hat Theatermacher Jürgen Flimm einer Bach-Kantate entliehen. Die Memoiren selbst musste er sich seiner schweren Erkrankung in den letzten Lebensjahren abtrotzen. Nun ist sein Vermächtnis „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“ erschienen - ein Jahr nach seinem Tod. FRIZZ - das Magazin leuchtet die symbiotische Freundschaft zwischen dem Regie-Zampano, der kurzzeitig auch in Mannheim wirkte, und der Trainerlegende Otto Rehhagel aus.

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© Hermann und Clärchen Baus

Auf Jürgen Flimm wurde der Verfasser dieser Zeilen erstmals über den Fußball aufmerksam. Über Otto Rehhagel genaugenommen, die Trainerlegende, die zu jener Zeit bei Werder Bremen Pylonen aufstellte, Bleiwesten anlegen ließ und elbisch bewandert über Theaterspielpläne parlieren konnte. Kritikern, die dem kauzigen Vorturner mangelndes Fachwissen unterstellten und seine Taktik als altmodisch abtaten, entgegnete er: „Modern spielt, wer gewinnt“. Und Rehhagel gewann. Zuerst mit den Norddeutschen zweimal die Deutsche Meisterschaft, den DFB-Pokal und den Europapokal der Pokalsieger, im Anschluss legte er mit München und Kaiserlautern nach. Letztere führte die er binnen eines Jahres zurück ins Bundesliga-Oberhaus und abschließend zum Meistertitel.

Wer die Bayern in den Achtzigern und Neunzigern als schwer überheblich und Schalke 04 als zu beflissen proletarisch empfand, der drückte still und heimlich den Mannen von der Weser die Daumen. Spieler wie Wynton Rufer und Andreas Herzog schlugen intellektuell auf, Stars wie Bruno Pezzey, Uwe Reinders oder Rune Bratseth galten als Posterboys in den Studierendenbuden der Sporthochschulen. Rehhagel, der eine anachronistisch wirkende Nahdistanz zu seinen Stars pflegte und Wert auf sittliche Reife legte, rezitierte zur Halbzeitpause gerne aus „Hamlet“ und deckte die gesamte Mannschaft mit Abos fürs Hamburger Thalia Theater ein. Es ist der Moment, in dem dessen damaliger Intendant Jürgen Flimm ins Spiel kommt.

Auf der einen Seite Flimm, populärer Theatermann, bundesweit geachteter Schauspieler, Regisseur und Impresario. Auf der anderen Rehhagel, der stets unverstanden geglaubte Sportdozent, dessen Kompensationswut wirkte, als müsste sie dem Rasensport in pausenloser Hatz antike Dramen abtrotzen. Wie im Theater stehen im Stadion Sieger und Verlierer im Fokus. Sie werden öffentlich gefällt oder geben sterbende Schwäne, wenn sie ewigen Ruhm erlangen wollen. Den Medien freilich galt Rehhagel als knorriger Ergebnisfetischist, dabei lag ihm hauptsächlich die Versöhnung des Ballsports mit der schönen Kunst am Herzen, was zuallererst seine Spieler auf Trab gebracht und weniger der Ästhetisierung des propagierten „atmenden Abwehrriegels“ Vorschub geleistet haben dürfte. „Der Otto hat ja jede Woche Premiere“, sagte Flimm einst mitfühlend über den getriebenen Gefährten, der in seinem irdischen Dasein als Übungsleiter gleichwohl die Hauptrolle besetzen musste: Als Held wahrhaftig griechischer Tragödien, die den phänomenalen Aufstieg wie den jähen Absturz stets vorwegnahmen.

Freund Rehhagel führt die „demokratische Diktatur“ in den Sport ein.

Flimm, nach eigenem Bekenntnis „Ball und Gekicke hemmungslos verfallen“, lernte Rehhagel 1981 bei „Bios Bahnhof“ kennen, wo sie sich nach der TV-Sendung beim Bier trafen. In seinen zahlreichen wie bildhaften Interviews konnte Flimm Strafräume und Südtribünen sprachlich zu Orten viktorianischer Verderbtheit verwildern lassen, umgekehrt bekrittelte „König Otto“ auf dessen Hamburger Hausbühne zuweilen Fehlbesetzungen. „Der ist nicht mit allen meinen Inszenierungen einverstanden“, gestand Flimm. Man sei „doch nicht erziehungsberechtigt, wenn man befreundet ist“. Nie freilich stand die Verbindung von Sport und Kultur, die entfernt an die symbiotische Beziehungskiste von Bertold Brecht und Max Schmeling erinnerte, auf der Kippe. Nur als der Theatermann dem Ballarbeiter rät, nach seiner Demission in Bremen ins Ausland zu wechseln, herrscht kurz Funkstille. Und als Uli Hoeneß beim gebürtigen Essener anfragt, „hat sich der Otto tagelang nicht bei mir gemeldet“, wird sich Werder-Vereinsmitglied Flimm später schmunzelnd erinnern.

Als Magiker in Deutschland schon geadelt, gelangen beiden Menschenfängern im Ausland geniale Coups. Nikolaus Harnoncourt, dessen Lieblingsregisseur Jean-Pierre Ponnelle gerade verstorben war, holte den mittlerweile SPD-sozialisierten Flimm erst nach Wien, dann nach Salzburg und Zürich. Die glamourösen Türen des Musiktheaters standen ihm ab da für seine handwerklich-opulenten, jedoch selten bahnbrechenden Inszenierungen offen. Er gastierte an der Mailänder Scala, der Metropolitan Opera New York oder der Lyric Opera of Chicago, inszenierte dort so ziemlich alles von Händel bis Strawinsky. Otto Rehhagel gewann derweil als Coach der griechischen Nationalmannschaft den Europameister-Titel, ein Erfolg mit dem krassen Außenseiter und „Meisterwerk eines Fußball-Extremisten“, wie die „FAZ“ titelte. Buddy Flimm ließ aus der Ferne grüßen: „Mitten aus dem Pott kommend, hast du es bis zur Akropolis geschafft.“ Der wie Göttervater Zeus Gehuldigte legte daraufhin seinen wenig poetischen Masterplan offen: „Die Griechen haben die Demokratie erfunden, ich habe die demokratische Diktatur eingeführt.“ Früher habe jeder gemacht, was er wolle, so Rehhagel, „jetzt macht jeder, was er kann.“

Pragmatismus beschreibt die Arbeitsweise, der er sich immer befleißigt hat: Otto hat das Sagen. Doch erst in Griechenland erklomm Rehhagel buchstäblich den Olymp. Dem Mann, der 1980 mit Fortuna Düsseldorf den DFB-Pokal gewonnen hat und der lange Zeit unter der Chiffre „Otto Notnagel“ als Feuerwehrmann in der Trainergilde firmierte, waren sportliche Titel oft unheimlich und noch häufiger suspekt. Im Dauerduell mit dem Münchner Meistermacher Udo Lattek, seinem Intimfeind, war er noch leer ausgegangen und gedemütigt worden. Nun endlich der Triumph, der Tag der Krönung. Schon bei den zahlreichen Siegesfeiern an der Weser setzten Fans ihn eine Krone aus Pappmaschee auf. Wie ein Monarch amtierte er fortan an der Seitenlinie. Der Staat bin ich! - die Maxime absolutistischer Herrscher wurde zur Richtschnur, übersetzt in Rehhagels einfacher Diktion: „Jeder kann sagen, was ich will.“

Aber Fußballfans sind auch Romantiker. Das haben sie mit den Menschen im Theaterparkett gemein. Viele wissen das nicht mehr, aber wie in einer langen Ehe müssen hier wie dort Leidenschaften ständig neu entfacht werden, was des unverbrüchlichen Respekts und Vertrauens bedarf. Und wer, wenn nicht der Trainer, könnte Kickern das Selbstbewusstsein einimpfen, unvergessliche Spielszenen zu kreieren? Wenn kein Verständnis, kein Gefühl für Leidenschaft und Erfolgshunger vom Vorgesetzten ausgeht, wird kein Spieler einen tieferen Sinn dafür entwickeln. Tore sind die Währung im Fußball, und gelungene Theaterpremieren lassen noch das fadeste Schauspielhaus in neuem Glanz erstrahlen. Aber ist man dem zahlenden Zuschauer nicht auch schuldig, statt ausgefeilter Effizienz und vorausschaubarer Dramaturgie, überraschende Momente der Ergriffenheit zu erschaffen? Das Publikum wissen lassen, dass es allen noch Spaß macht? „Die Probenarbeit ist das Schönste in meinem Beruf“, hat Jürgen Flimm einmal gesagt. Als Trotzreaktion vielleicht auf die Schmähkritik, mit der man zuweilen den erfolgreichsten Theatermacher der letzten fünfzig Jahre überzog. Etwa, als sein Bayreuther „Ring“ als zu leicht befunden wurde. Für Flimm war das Theater nie bloß flamboyantes Blendwerk, sondern immer auch kontemplativer Rückzugsort. Der Traum von unbeobachteten Augenblicken. Und von der Idee, in solch raren Momenten etwas Neues aus sich selbst heraus entstehen zu lassen. Routine und Stegreif, Phantasie und eine harte Hand. Rehhagel wird das verstanden haben.

Früh reift Flimm zum Prototyp westdeutscher Theaterherrlichkeit.

Der multitalentierte Flimm gibt nur auf den ersten Blick die Kölner Frohnatur, mimt den jovialen Hans Dampf. Er war, auch als er 2006 Festspielintendant in Salzburg wurde, der geniale Schauspieler seiner selbst. Nur gelegentlich tauchen in seinen jetzt posthum veröffentlichten Erinnerungen Gegner auf. Opportunisten oder Politiker wie der mehrjährige SPD-Chef Hans-Jochen Vogel, an denen er, der Gerhard-Schröder-Kumpel, kein gutes Haar lässt. Unter keinen noch so bitterlichen Umständen auf den Mund gefallen, reifte Flimm früh zum Prototyp westdeutscher Theaterherrlichkeit. Er war eloquent und sozial verträglich, dabei wölfisch hartnäckig in der Verfolgung selbstgesteckter Ziele. Wie alle Theaterintendanten vom alten Schlag, so fiel auch er am Ende ein wenig aus der Zeit. Die Subventionstheater setzten Roman-Adaptionen auf ihre Spielpläne - und ließen einst gepäppelte Regietheater-Zampanos wie Claus Peymann und Hansgünther Heyme langsam am ausgestreckten Arm verhungern.

Der katholisch-sinnensatte Rheinländer wächst als protestantisches Ärztekind in Köln auf. Vom Vater, der als diensthabender Theaterarzt Abend für Abend an der Rampe saß, bekommt er die Bühnenpassion in Form von Freikarten vererbt. Schnell entwickelt er inmitten kriegszerstörter Spielstätten ein Gespür fürs Improvisationstheater, das ihn später bei studentischen Projekten hilft, finanziell über die Runden zu kommen. An den Münchner Kammerspielen steht er Ende der Sechziger als Regieassistent noch im Schatten von Kortner, Everding und den aufsässigen Peter Stein. Als Spielleiter in Mannheim, Köln und Hamburg musste - und wollte - er schon Feingeist und Zirkusdirektor in Personalunion sein. Dazu Kalkulator und Sonnenkönig, Diva und Betriebsnudel, Genie und Scharlatan. Ein speiender Vulkan, den schnell etwas zum Grollen bringt, der umgekehrt nicht übelnimmt und verzeihen kann. Flimm war nicht tollkühn wie Neuenfels und genialisch wie Zadek, dafür verstand er sich auf das Zusammenscharren fremder Talente. Er ließ andere erstrahlen, stiftete Ensemble-Größen wie Quadflieg und Trissenaar zu Wahnsinnsleistungen an - und er entwickelte das Thalia unter seiner Ägide zum künstlerisch wie wirtschaftlich erfolgreichsten Sprechtheater Deutschlands.

Menschenführung nach dem Prinzip der langen Leine - heute hipper denn je.

Auch Rehhagel ist zu dieser Zeit mit ungeheurer Machtfülle ausgestattet, mit seiner Kompetenz und klugen Personalpolitik hält er die Bremer Underdogs Mitte der Neunziger sportlich auf Augenhöhe mit dem Branchenprimus aus dem Süden der Republik - trotz schlechterer monetärer Startbedingungen. Waren sich die feinsinnigen Brüder im Geiste ihrer kongruenten Methodik beim Herauskitzeln brillanter Leistungen bewusst? Haben sie sich darüber ausgetauscht, interdisziplinär sozusagen? Flimms wirr-anekdotischen Lebenserinnerungen, die von einer strengeren Lektorats-Durchsicht sicher profitiert hätten, geben darauf keine eindeutige Antwort. Überhaupt bleibt das Private in dieser Draufsicht privat. Seine Liebschaften, die zahlreichen Kinder - Erzählungen vom großen Glück abseits des Regiepults schimmern verräterisch oft nur als lakonische Dioramen der letzten künstlerischen Wirkungsstätte durch, über Bande sozusagen, wenn etwa in Zürichs Theaterkantine edle Weine entkorkt, Piccolos geschlürft oder anderntags bahnbrechende New Yorker Arbeitsfreundschaften zu feucht-fröhlichen Zechgelagen runtergedimmt werden. Die zumeist weibliche Kollegenschaft wird alternierend als charmant, aufreizend, entzückend, berauschend oder begehrenswert beschrieben, und wer nach der Lektüre solch schwieriger Genderstereotypen zu Atem kommt, darf in den folgenden Kapiteln gleich ganz ins Flimm‘sche Panoptikum von Scheinriesen eintauchen, in dem die Prousts, Morettis und Grönemeyers immer unbedeutender werden, je häufiger Onkel Jürgen mit ihnen dinieren wird. Tote zumindest werden fleißig von ihrer Patina befreit, auch weil der Autor dann doch recht mitreißend seinen Büchner, Kleist oder Horváth zur Chefsache erklärt und vom gesellschaftlichen Furor berichten mag, der verfemten Klassikern in politisch bewegten Zeiten wider Erwarten zu später Ehre verhilft.

Rehhagel, der zuweilen schulmeisterlich auftretende Spross eines Bergmanns, sah sich ebenfalls an der Nahtstelle von Tradition und Sturm und Drang, er holte Talente wie Völler und Riedle, Bratseth und Rufer, förderte Eigengewächse wie Meier und Neubarth, vertraute aber auch Routiniers wie Kostedde und Burgsmüller, Votava und Allofs. So formte Rehhagel ein Team, fand die richtige Ansprache an die Elf, unterlegt mit Zitaten zuweilen jener Dichterfürsten, die Freund Jürgen flugs am selben Abend auf seiner Theaterbühne zum Leben erweckte. Oft belächelt, reüssierten beide mit ihrer Art der Menschenführung nach dem Prinzip der langen Leine, was im Nachgang so emanzipiert und progressiv klingt wie es vor einem halben Jahrhundert tatsächlich war. Die von Flimms schwerer Erkrankung geprägte Autobiografie fördert ein bewegendes Füllhorn voller Bravos und Buhs, Erfolge und Niederlagen zu Tage. Eine Erinnerung daran, dass ein Leben ohne Kunst und Fußball möglich, aber nicht vollendet ist.

Jürgen Flimms Erinnerungen „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“  (ISBN 978-3-462-05480-4) sind im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Die gebundene Ausgabe hat 352 Seiten und kostet 26 Euro (E-Book: 22,99 Euro).

Weiterführende Infos zum Gesamtprogramm halten die Internetseiten des Kölner Kiwi-Verlags bereit.

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