Das Glück war immer anderswo

David Bowie ist seit vier Jahren tot, aber der Run auf Memorabilien, digital aufbereitete Frühwerke und zahlreiche CD-Neuveröffentlichungen hatte in Zeiten des Corona-Lockdowns Hochkonjunktur. Wer den Marathon auf den Spuren des erratischen Superstars fortsetzen möchte, der kann in diesem Lesesommer zu dem Band „Bowies Bücher“ greifen, der die hundert Lieblingsschmöker des Musikers, Produzenten und Schauspielers launig kommentiert.

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© Tom Kelley / Warner Music

Machen wir uns nichts vor, die frühen Platten von David Bowie waren vor ihrer digitalen Auffrischung schlecht gealtert. Eine zentimeterdicke Staubfirnis schien unsere Erinnerung an die Glam-Rock-Frühphase getrübt zu haben, auf melodische Opulenz und glitzernde Outfits sowieso. Lange hatten wir uns am prophetischen Lagerfeuer des ewigen Aladdin Sane und Thin White Duke gewärmt. Der personifizierte Außerirdische, mit dem wir uns nur allzu gerne auf die Suche machten nach ewiger Menschwerdung und irdischem Glück. „Space Oddity“ (1969) und „The Man Who Sold The World“ (1970) sind aus heutiger Sicht dann immer noch etwas für Leute, die ein beherztes Zutrauen in Ü-50-Partys haben sollten - oder eben kräftig einen im Tee. Denn wer Songs wie „Hang on to Yourself“ oder „Fill your Heart“ unter der alten Dual-Nadel rotieren lässt, ohne dabei kurz geschmäcklerisch mit den Mundwinkeln zu zucken, der findet wohl auch adipöse Wahrsagerinnen in wallenden Batikkleidern sexy. Genug ausgekeilt, ab „Diamond Dogs“ (1974) wurde vieles besser, auch weil der Meister beim Abmischen der Tonspuren selbst Hand anlegte und erstmals jene apokalyptische Stimmung verbreitete, die später die Trademark bei seiner Sorge um die Zukunft der Menschheit werden sollte.

Die Entrümpelungsmaschinerie, die den Nachlass des 2016 im Alter von 69 Jahren verstorbenen Sängers unter seinen Anhängern verteilt, scheint gerade erst angelaufen. Dabei war der größte Sammler von Bowie-Erinnerungsstücken stets David Bowie selbst. 1998 etwa kaufte der Künstler die vollständige Sammlung von David Priest, der einst auch seine größte Fanseite im Internet betrieb. Kurz vor Bowies Tod wechselte ein originales Selbstporträt für 8840 Euro den Besitzer. Neben der Veröffentlichung von dreißig Studioalben stellte Bowie im Laufe seiner Karriere auch immer wieder sein Talent als Schauspieler in rund zwanzig Filmen unter Beweis. So spielte er 1976 Thomas Jerome Newton in „Der Mann, der vom Himmel fiel“ und fertigte zu dieser Zeit ein Porträt von sich an. Die Zeichnung schenkte er seinem Regisseur Nicolas Roeg, versehen mit einer Widmung „For Nick, Love Bowie“.

Unter den Memorabilien diverser Online-Auktionshäuser finden sich neben profanen Devotionalien wie Eintrittskarten und Plakaten aber auch Liebhaberstücke wie eine echte Haarsträhne, die Bowie einst Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett überließ, oder das letzte Ziggy-Stardust-Kostüm für 18 279 Euro aus dem Jahr 1973. Ein mickriger Betrag im Vergleich zu den krakeligen handschriftlichen Textzeilen für „The Jean Genie“, die Bowie für sein 73er Album „Aladdin Sane“ in ein schmuckloses Discounter-Notizbuch kritzelte, das für 23 213 Euro den Besitzer wechselte. Wer freilich die knappe viertel Million in die Sonderanfertigung eines Brionvega-Plattenspielers investierte, kann sich immerhin damit brüsten, dass die cremefarbene Scheußlichkeit aus Holz, Aluminium uns Polycarbonat angeblich der ganze Stolz des Sängers gewesen sein soll.

Das musikalische Schaffen ist gottlob frei von allem Talmi. Das machen die sukzessiv in den letzten Jahren remasterten Versionen der alten Scheiben einmal mehr deutlich. Schwebend der Sound, liebevoll ausdifferenziert die Arrangements, gewohnt unheilvoll der Gesang, nur an Nile Rodgers funkensprühende Disco-Gitarre auf „Let’s Dance“ (1983) werden wir uns wohl nie gewöhnen. Beinahe entschuldigend huldigt die Plattenfirma in diesen Tagen der liebevollen Zusammenarbeit mit Iggy Pop mit einem siebenteiligen Box-Set, das neben Versionen der gemeinsamen Alben „The Idiot“ und „Lust For Life“ auch erstmals das Live-Album „TV Eye“ beinhaltet. Zudem gibt’s seltene Studio-Outtakes, alternative Mixe und drei CDs voller bisher unveröffentlichter Live-Aufnahmen von Konzerten aus London, Cleveland und Chicago aus dem Jahr 1977. Bowie, in Sachen Rauschmitteln selbst kein Kostverächter, stand dabei stets fokussiert am Produzenten-Mischpult, und irgendwann holte er auch seinen alten Buddy Pop nach West-Berlin nach, was dem mutmaßlich das Leben rettete. In späteren Jahren werden sie sich nach diversen Drogenexzessen wohl gegenseitig aufs richtige Gleis gesetzt haben.

Jäger und Suchende. Wer seltenes Vinyl und Bowie-Devotionalien sammelt, der hofft natürlich auf Wertsteigerung.

1997 aber war Bowie längst familiär hospitalisiert und bestellte schon das unendlich weite Feld des Jazz-Pop. Bei der BBC bereitete man gerade anlässlich seines fünfzigsten Geburtstags überwiegend akustische Einspielungen von neun seiner Songs vor. Die Arrangements von Bowies Lieblingskompositionen schlummerten nach der Ausstrahlung als Asservaten im Keller des Senders. Nach über zwanzig Jahren bot man sie Liebhabern dann als digitale Streams feil, jüngst wurden sie unter dem Namen „Changesnowbowie“ zu einer limitierten Auflage auf LP und CD verewigt. Wer das braucht? Vor allem Leute, die ihr altes Bowie-Vinyl im Hinblick auf eine zu erwartende Wertsteigerung schonen wollen, und natürlich all jene, die immer noch glauben, sie könnten aus dem Klangbild ihres Beyerdynamic-Amiron-Kopfhörers ein bislang ungelüftetes musikalisches Mirakel um den Mann aus London heraushören. Der sündhaft teure Bügel bietet unter anderem eine „dynamische Klang-Personalisierung“ - dem Mysterium einer fast fünfzigjährigen Karriere kommt natürlich auch er bei den posthumen Neupressungen nicht auf die (Ton-) Spur.

Lohnender bei der Erklärungssuche für die spätere Legendenbildung könnte der Umweg über die Literatur sein. Als David Bowie von der Zeitschrift „Vanity Fair“ vor Jahren gefragt wurde, was seiner Vorstellung des perfekten Glücks am nächsten komme, antwortete er: „Lesen“. Tatsächlich besaß er eine mobile Bibliothek, eine Art Koffersystem, das ihn stets auf Reisen begleitete. Als „Der Mann, der vom Himmel fiel“- Regisseur Nicolas Roeg 1975 beobachtete, wie sein spindeldürrer Hauptdarsteller im Wohnwagen vor einem Stapel Lesestoff saß, rief er ihm zu: „David, dein großes Problem ist: Du liest einfach nie genug.“ Zu dieser Zeit war der Musiker schwer drogenabhängig. Roeg verließ den Trailer vorsichtig optimistisch, denn wenn Bowie seine Nase in Bücher steckte und nicht in eine Line Koks, dann stieg die Wahrscheinlichkeit, dass er die Dreharbeiten durchstehen und nicht im Treibsand seiner eigenen Gedanken versinken würde. In „Quicksand“, einem grüblerischen Song auf dem Album „Hunky Dory“ von 1971, hatte er diesem Schicksal bereits vorgefühlt.

Für alle Bowie-Sinnsucher macht es also durchaus Sinn, die musikalischen Meriten des Grenzgängers und Pretiosen des manischen Kunstsammlers für einen Lesesommer kurz auszublenden und sich ganz der nicht einmal so heimlichen Leidenschaft des Superstars anzunehmen. Vor allem der Prosatexte, die ihn selbst bewegt, über die er reflektiert, die er in seinen Liedtexten verarbeitet hat. Der britische Journalist John O’Connell stellt jetzt in „Bowies Bücher. Literatur, die sein Leben veränderte“ hundert Werke vor, die den Musiker so sehr beeindruckt haben sollen, dass er sie immer um sich haben wollte und in späteren Lebensjahren bei jeder passenden Gelegenheit würdigte, auch in von ihm selbst verfassten Besprechungen. Tatsächlich gibt es viele Fotos, die ihn in ein Buch vertieft zeigen, er war mit Autoren wie William Boyd befreundet, und Bowies Biograf gibt sich reichlich Mühe, die möglichen Verbindungen zwischen dessen Werk und etwa „Clockwork Orange“ herauszuarbeiten. 1972 bediente sich Bowie augenscheinlich der Verwegenheit und Schockwirkung von Burgess‘ Roman für seine legendäre Verwandlung in den „aussätzigen Messias“ Ziggy Stardust, einen bisexuellen Alien-Rockstar mit rotem Haar und einer Schwäche für asymmetrisch zusammengenähte Ganzkörperanzüge, der schließlich von seinen Fans ermordet wird.

Bücher waren für den im Londoner Vorort Bromley aufgewachsenen David Robert Jones eine Fluchtmöglichkeit und ein Mittel gegen die Einsamkeit - die eigenen Eltern beschrieb er später als „ziemlich unterkühlt“, schweigsam und auf eine britische Art distanziert. Halbbruder Terry spielte dagegen eine wichtige Rolle in der Findungsphase, brachte ihn nicht nur in Kontakt mit der Rockmusik, sondern auch mit Jack Kerouacs Beatnik-Bibel „Unterwegs“. Auch als die eigene Karriere immer rasanter verlief, begleitet von Lebenskrisen und Fehlschlägen, blieb er ein manischer Leser, der alles verschlang, was die Paperback-Abteilungen hergaben. Meistens sind O’Connells Überlegungen zu Bowies Wälzern zitatenreich unterfüttert, launig überhöht, seltener jedoch faktenreich decodiert. Etwa, wenn sich der Biograf bei William Faulkners Roman „Als ich im Sterben lag“ im Plauderton fragt, ob sich Bowie wohl an die wichtige Rolle erinnerte, die Zähne in diesem Buch spielen, als er sich in den späten Neunzigern sein schiefes Gebiss richten ließ. Gewiss ist vieles, was sich auf Bowies Leseliste befindet, ja auch herrlich sinn- und fantasiestiftend. Das reicht von Klassikern wie Homers „Ilias“ und Dantes „Inferno“ über Flauberts „Madame Bovary“ bis zu der britischen Schund-Comic-Reihe „The Beano“. Leider liefert uns das KiWi-Buch zu jeder profunden Besprechung auch gleich entbehrliche Gimmicks mit - die musikalischen Anspieltipps und weiterführenden Literaturhinweise wirken im Nachgang jedenfalls so penetrant wie die bezahlte Promotion in jenen billigen Reiseführern, die uns mit Restaurant-Ausgehtipps nach dem Theaterabend traktieren.

Bowies Lieblingsbücher liefern dem Leser den Soundtrack für das eigene Leben gleich mit.

Bowie las gleichwohl aber auch monumentale historische Abhandlungen wie Orlando Figes „Tragödie eines Volkes“ und deutsche Bücher wie Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“. Bei diesem Roman aus dem Jahr 1968 vermutet O’Connell, dass Bowie ihn womöglich zweimal gelesen haben könnte, einmal 1976, als Wolf Biermann ausgebürgert wurde, und dann ein viertel Jahrhundert später, als Bowie damit beschäftigt war, aus der nostalgischen Erinnerung auf seine Berlinzeit künstlerische Kräfte zu schöpfen. Bowies von Trauer gezeichnete Comeback-Single „Where are we Now?“ sei von Wolfs Einfluss durchdrungen, glaubt O’Connell. Ein in der Zeit eingekapselter Mann, der mit den Geistern der Verstorbenen durch die Straßen streift, daneben die Menschentrauben, die über die Bösebrücke am Grenzübergang Bornholmer Straße strömen. Doch ist die privat-politische Überblendung hier glaubwürdig?

David Bowie hat eine ganze Reihe Songs hinterlassen, die man gerne wie kleine Erinnerungsstücke auf seiner Reise durchs Leben mitnimmt, um sie bei passender Gelegenheit wieder auszupacken und sich daran zu erwärmen. Aber manches aus seinem Werk ist auch dermaßen sperrig, dass es nicht mal in den größten Überseekoffer passt. Der gehört als literarische Schatztruhe im Grunde einmal ordentlich auf den Kopf gestellt und vom Werbe-Sound der Plattenindustrie gesäubert. Doch genau hier lässt O’Connell allen Mut an sein raffiniert eingefädeltes, popmusikalisches Memory-Gedächtnisspiel fahren, dafür drängt sich der Ton eines besserwisserischen Fans in den Vordergrund, der meint, seinem Vorbild nun auf dem trüben Feld der spekulativen Publicity Paroli bieten zu müssen. Statt historisch verbrieftem Gehirnjogging setzt es reflexartig die genreüblichen, boulevardesk anmutenden Promi-Hypothesen wie aus dem Pressebüro von Dieter Bohlen. Das ist schade, denn der Autor präsentiert sich ansonsten über weite Strecken als cooler Rezensent, nicht als Aufschneider, gibt freimütig zu, den Star nur kurz zu Interviews getroffen zu haben. Geschützt hat ihn die Distanz zur ambivalenten Aura des Tausendsassas nur selten, sein abschließendes Credo: Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist. Einer These, der Bowie bei der Zusammenstellung seines Kanons vier Jahre vor seinem Tod übrigens indirekt selbst widersprach. Seine „wichtigsten“ Bücher habe er listen wollen, nicht die „prägendsten“ oder „einflussreichsten“. Es ist eine nicht unwesentliche Trennlinie, die „Bowies Bücher“ ständig negiert und sich damit der intellektuellen Steilvorlage beraubt, eine quecksilbrige Künstlerseele glaubhaft auszuleuchten und damit Bowies Selbstbildnis hin und wieder kräftig gegen den Strich zu bürsten.

Denn zum intellektuellen Vexierspiel lädt jede Bücherliste, mit der man renommieren möchte, unweigerlich ein. Man versichert sich der eigenen Geltung, wenn man bedeutungsvolle Titel aus dem privaten Bücherschrank empfiehlt. Dem multiplen Bühnenkünstler Bowie war dieses Mitteilungsbedürfnis keineswegs fremd, aber mindestens so wichtig war für ihn die Selbsterkenntnis beim Lesen. Durch John O’Connells durchaus lesenswertes Buch lernen wir viel über dieses Dahindriften durch andere Welten - und auch ein bisschen über uns selbst: Es gibt also noch mehr Menschen dort draußen, die ihre eigene Fremdheit spüren. Das Gefühl, nie so ganz dazuzugehören, trotz Millionen verkaufter Platten, verließ auch David Bowie nie. All die seltsamen Vögel, die melancholischen Erzähler und sexuellen Außenseiter, die zu seinem Rollenspiel passten, fand der Musiker und Songschreiber dann wohl tatsächlich eher in der Literatur als im wirklichen Leben.

Die meisten der remasterten Tonträger von David Bowie sind beim Label Warner Music erschienen und im Fachhandel erhältlich. Das Taschenbuch „Bowies Bücher“ von John O’Connells ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch in der deutschen Übersetzung von Tino Hanekamp erschienen. Es kann für 16 Euro im Buchhandel geordert werden.

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