Es läuft

Das Virus war noch nicht in der Welt, aber Lois Hechenblaikner skizziert in seinem Bildband „Ischgl“ bereits, wie das Bergdorf später zu einer pandemischen Covid-19-Zentrifuge mutieren konnte. Zu sehen sind Fotos über Enthemmung und Exzesse, aber der kultursoziologische Blick auf die kalte Mechanik einer verantwortungslosen Vergnügungsindustrie macht vor allem fassungslos.

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© Lois Hechenblaikner / Steidl Verlag

Wer an Ischgl denkt, der darf die größeren Zusammenhänge, die den Tiroler Skiort jüngst als Corona-Zentrifuge mit europaweiter Streuung bekannt machten, nicht ganz ausblenden. Das Schicksal der bitterarmen Bergbauern etwa, die noch vor hundert Jahren ihre Kinder ins reiche Schwabenland schickten, wo man sie als billige Arbeitsplätze auf dem Ravensburger Markt verhökerte. Lois Hechenblaikner hat Respekt vor denjenigen, die sich seither aus dem Elend herausgearbeitet haben. 1958 als Kind von Tiroler Wirtsleuten geboren, hat der leidenschaftliche Gastronom und renommierte Fotograf schließlich häufig selbst im heimischen Betrieb mit anpacken müssen, wenn es darum ging, die Familie finanziell über Wasser zu halten. Mittlerweile aber prägen Exzesse und Enthemmung das Bild des 1600-Seelen-Dorfes an der Schweizer Grenze, nicht mehr die imposanten Dreitausender, die Ischgl majestätisch einrahmen. „Es ist so viel Ignoranz da“, sagt Hechenblaikner, „dass ich mich nur noch mit den Wunden des Massentourismus befassen kann.“ Es klingt wie eine Kapitulation. Aber auch wie eine Lebensaufgabe.

Seine Fotos, die jetzt in einem beeindruckenden Bildband im Göttinger Steidl-Verlag erschienen sind, zeigen Müllberge im Schnee, schwankende Türme aus Getränkekisten, haushohe Halden aus Bierfässern. Hechenblaikner stand mit seiner Kamera aber nicht nur inmitten feiernder Menschen außer Rand und Band, er betrat auch die Hinterbühnen der Hüttengaudi, fotografierte Beschneiungsanlagen und triste Speicherseen im Bau, lichtete menschenleere Après-Ski-Hütten sowie computergesteuerte Pump- und Ausschanksysteme ab. Traurige Wirklichkeiten hinter der Folklore von 13 000 Touristenbetten und 400 Hotels.

„Das Schlimmste an diesem Tourismus ist, dass man irgendwann denjenigen zu hassen anfängt, von dem man lebt“.

Es ist ein kultursoziologischer Blick auf die kalte Mechanik einer profitorientierten und verantwortungslosen Vergnügungsindustrie. Schreckensbilder aus einer bacchantischen und zügellosen Urlaubswelt, die erahnen lassen, wie sich die Covid-19-Pandemie von hier aus wenig später europaweit ausbreiten konnte. Dabei stand Corona nie im Fokus, das Virus war zu der Zeit, als das Buch editiert wurde, nicht einmal existent. Im Nachgang wirken die Fotos von den Stockholmer Abi-Feten und jene von der Luftmatratzen-Party einer durchgeknallten Antifa auf der Berliner Spree zwar kaum weniger verstörend, aber Hechenblaikners Blick verrät gerade in seiner kaum wertenden motivischen Draufsicht den unbestechlichen Insider hinterm Objektiv. „Das Schlimmste an diesem Tourismus ist, dass man irgendwann denjenigen zu hassen anfängt, von dem man lebt“, sagt er. Klar, wen er dabei meint: den Gast.

Der freilich läuft zuweilen erst als Teil einer grell kostümierten Männertruppe zu echter Tages- und Nachtform auf. Druckbetankte Halbwüchsige tragen Shirts mit Aufschriften wie „Muschifreunde“, „Fotzen Ischgl“ oder „Geile Sau“, und am Rand der Destination mit Pistenanschluss gehören Dildos und Strapse als Nahkampfwaffen zur nachmittäglichen Sause. Laut Hechenblaikner sei Ischgl zu einem „hormonellen Second-Hand-Markt“ verkommen, ein idealer Nährboden für Fremdgängerger, Blindgänger und Draufgänger, mit Alkohol als wichtigstem Gleitmittel. Hauptsache, es läuft.

Dem Mann, der nicht weit von Ischgl im Alpbachtal aufgewachsen ist, ist körperliche Nähe dabei weder fremd noch unangenehm. Fast zwei Jahrzehnte war er in vielen Ländern Asiens als Reisefotograf tätig, seit den Neunzigern setzt er sich mit dem tourismusbedingten Wandel in seiner Heimat auseinander. Es sei etwas ins Rutschen gekommen in den einst romantischen Skiorten und heutigen Hochburgen der Eventkultur, weiß der Lichtbildner, und diesmal ginge es einmal nicht um abgehende Schneebretter oder Schlammlawinen.

Der Gast ist keineswegs das Opfer, stellt Hechenblaikner fest, „er ist Komplize“.

1,7 Millionen Besucher pro Jahr zählte das Kaff zuletzt, die meisten kamen im Winter. Maßgeblicher Förderer einer neuen Dimension der Unkultur ist der Sohn des ehemaligen Bürgermeisters Erwin Aloys. Spross Günter hat als Hotelier und Visionär das Eventmarketing des Wintersports gleich auf ein neues Level gehoben und das feinsinnige Bonmot aus der Taufe gehoben, man müsse den Tourismus „mit dem Penis denken“. Seitdem hat die Dekadenz ihre vorerst letzte volkstümliche Heimstätte in der Paznaun-Region, findet noch die größte Exaltiertheit, die über die Theke wandert, einen Abnehmer. Selbst die vergoldete Sechs-Liter-Flasche Dom Perignon für 50 000 Euro. Der Gast sei keineswegs das Opfer, stellt Hechenblaikner fest, „er ist immer Komplize.“

Wie es aussieht, wenn Sodom und Gomorra synonym für die neuen heimlichen Fetenhits stehen, das hat der Österreicher in Form von Polizeiberichten aus Ischgl am Ende seines Buches zusammengetragen. Verletzte und selbst Tote scheinen als Kollateralschäden der triebgesteuerten Dauerparty verlässlich eingepreist zu sein. Was bleibt, ist also so etwas wie die finale Verwüstung eines alpinen Kriegsschauplatzes durch die letzten Überlebenden.

Lois Hechenblaikner, „Ischgl“, 240 Seiten mit 205 Abbildungen, Fester Einband, Steidl Verlag, 34 Euro.

Infos zum Gesamtprogramm des Göttinger Steidl-Verlags hält das Internet hier bereit.

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