Ohne Worte

Vor hundert Jahren wurde Otl Aicher, einer der wichtigsten Gestalter des vergangenen Jahrhunderts und Wegbereiter des Corporate Designs, geboren. Jetzt würdigt ein Prachtband Werk und Wirkung des Weggefährten der Geschwister Scholl.

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© Prestel Verlag

Das Design der Olympischen Spiele in München erschien 1972 wie aus einem Guss - heiter, freundlich, klar und modern. Ein einheitliches Farbleitsystem mit den markanten Regenbogenfarben Himmelblau, Frühlingsgrün, Sonnengelb und Orange, dazugehörig die allgegenwärtigen Piktogramme: Leichtverständliche Karikaturen vor den schwebenden Zeltdachkulissen des Olympiaparks. Der Architekt Frei Otto ließ durch transparente Plexiglas-Hüllen reichlich Tageslicht in seine Sportstätten hineinbrennen, sein Gestaltungsbeauftragter Otl Aicher machte die Weltspiele aber erst durchschaubar: Eine Strichfigur in dynamischer Schräglage mit einem Kreis am Bein stand etwa für den Fußball, führte das Bildzeichen den Kreis an der Hand, war der Handball gemeint.

Erfunden hat der Ulmer die Sportsymbole aber nicht, es gab sie bereits 1964 in Japan. Aicher hat ihnen aber zu jener ikonischen Gestalt verholfen, die in Erinnerung geblieben ist. Grafik als soziale Kommunikation, nur eben ohne Worte. Wo bitte geht’s zur Damentoilette? Schilder, die eine Strichfigur mit Dreiecksbauch zeigen, weisen den Weg. Auf Bahnhöfen, Flughäfen, Schiffsfähren und Stadien - flächendeckend auf allen Kontinenten. Piktogramme sind zur Weltsprache der Globalisierung geworden. Zu ihrem Siegeszug hat ihnen der schwäbische Gestalter verholfen.

Otto Aicher, den alle nur „Otl“ nannten, ging mit Werner Scholl zur Schule. Über ihn kam Aicher ab Ende 1939 in engeren Kontakt mit der Familie und den Geschwistern Scholl. Aicher weigerte sich, der Hitlerjugend beizutreten, wurde kurzzeitig inhaftiert, vor Kriegsende desertierte er aus der Wehrmacht. Anders als die Geschwister Scholl kam Otl Aicher aus einer dezidiert katholischen Familie. Seine spätere Frau Inge Aicher-Scholl hat mit ihrem 1947 erschienen Buch „Die weiße Rose“ als erste Autorin das öffentliche Bild der Münchner Widerstandsgruppe geprägt, der ihre jüngeren Geschwister Hans und Sophie angehörten. Die Scholls waren gläubige Protestanten, Inge Scholl konvertierte 1945.

Design und Kunst müssten sich zueinander wie Wissen und Glauben verhalten, glaubte Otl Aicher.

Gemeinsam mit ihr gründet Aicher 1946 die Ulmer Volkshochschule, aus der die später stilbildende Hochschule für Gestaltung hervorgehen wird. Sie sollte dazu beitragen, ein antifaschistisches und demokratisches Deutschland zu formen. Grafik sollte sozialer Verständigung dienen, Produktgestaltung den Alltag menschlicher machen. „Kloster zum rechten Winkel“ nannten Spötter die von Aicher und Max Bill mitbegründete Ulmer Einrichtung, die als erste private Forschungsanstalt der jungen Bundesrepublik im August 1953 den Lehrbetrieb aufnahm. Es soll gewissenhaft und familiär zugegangen sein in den Anfangsjahren. Flache Hierarchien, würde man es jetzt nennen.

Allzu lange halten sich Winfried Nerdinger und Wilhelm Vossenkuhl - der eine Professor für Architekturgeschichte, der andere für Philosophie - aber nicht mit der Biografie des Zeitkritikers Aicher auf. Die Herausgeber eines gerade erschienenen Prachtbands interessieren sich mehr für den „Designer. Typografen. Denker“, wie der Untertitel verheißt. Soll hinter dem Designpapst der Lehrende und Mensch ausgeleuchtet werden, lassen sie andere zu Wort kommen. Absolventen der Ulmer Institution etwa. Dort habe Aicher stets willfährige Jünger um sich geschart, wer der reinen Lehre nicht folgen wollte, wurde mit Nichtbeachtung gestraft, berichten ehemalige Studierende. Heute würde man vermutlich von einem „Klima der Angst“ sprechen. Zudem sei er in den Jahren, als die Aufträge von Unternehmen wie Braun, Puma oder der Dresdner Bank unter Zeitdruck abgearbeitet werden mussten, als Pädagoge und Dozent „kaum noch erkennbar gewesen.“ Sein rastloser Geist und aufbrausendes Temperament - so etwa beim Bruch mit Kompagnon und Bauhaus-Legende Max Bill - werden angedeutet, ansonsten darf über die Gründe unerfüllten Seelenheils spekuliert werden. Als Gestalter, der nebenbei zum Wegbereiter des Corporate Design wurde, verstand sich Aicher ja stets als jemand, der die Welt bereits beim täglichen Denken und Handeln neu entwickeln musste, durch umfassendes Durchdringen seiner Umwelt fand er schließlich zur Form. Design und Kunst müssten sich zueinander wie Wissen und Glauben verhalten, war sein unversöhnliches Credo. Ob der Mann sich ein Leben lang fremd blieb, darf angenommen werden. Daheim aber war er wohl nur in der Ausarbeitung seiner Ideen.

Mehrere Kollegen werfen ihm die „Trivialisierung derFormsprache“ vor. Zudem habe Aicher, der Autodidakt war und selbst nie studierte, die Quellen für seine Inspirationen selten offengelegt, dafür umso ungenierter kopiert, etwa bei Fotografen der Zwanzigerjahre. Norman Foster versucht sich in einer Art Nachwort um Wiedergutmachung. Der Freund spricht von „Otls trockenem Humor“, der mit „Selbstironie gewürzt“ war, eine „anarchische, unkonventionelle Seite.“ Seine Arbeits- und Lebensweise, seine Einstellung zu Politik oder Umwelt, „ja sogar die Frage, wie man eine Zwiebel schält oder den Rasen mäht, waren miteinander verbunden und Bestandteile seiner persönlichen Weltanschauung.“ Konzeptionelle Klarheit beruhte auf einem philosophischen Grundprinzip, schreibt Foster und weiß von Aichers Spleen, überall im Atelier oder Haus „Behälter aufzustellen, die er immer wieder mit unbeschriebenem Papier auffüllte. Auf diese Weise konnte er, wo auch immer er sicher gerade befand, nach einem Zettel greifen und mit dem Kugelschreiber Ideen skizzieren.“ Und dann schreibt der britische Stararchitekt jenen Satz, der als innerer Kompass für Aichers schöpferisches Leben stehen könnte: „Ich war beeindruckt, wie Otl auf verschiedene Weise Spontanität zuließ, indem er zunächst Ordnung herstellte.“

Einzelne Wörter durch Großbuchstaben hervorzuheben, war für Aicher ein Symbol der Hierarchie und Unterdrückung.

Das prägende Erscheinungsbild, das er seit den frühen Sechzigerjahren als visueller Gestalter etwa bei der Lufthansa, Unternehmen wie Bulthaupt oder dem Leuchtenfabrikanten Erco hinterließ, führte ihn zum Nachdenken über soziale und politisch-philosophische Fragen. Aicher schrieb ethisch motivierte Fibeln mit Titeln wie aus dem marxistischen Proseminar: „Die Küche zum Kochen“ von 1982 und fünf Jahre später „Greifen und Griffe“. „Innenseiten des Kriegs“ entstand im Zusammenhang mit den Protesten von Mutlangen gegen den Nato-Doppelbeschluss und der Friedensbewegung, in der sich Aicher nicht nur als Gestalter engagierte.

Sein Sohn Florian erlebt den Vater in jenen Jahren als „streng und abwesend“, als Mensch, „der zutiefst davon überzeugt war, dass er einen Teil zum Bau dieser Welt beitragen muss.“ Die Werbekampagnen lassen Otl Aicher im Nachgang aber auch als einen großen Ironiker der Branche erstrahlen, was sich schon beim legendären Gestaltungskonzept für die Sparkasse aus dem Jahr 1969 andeutet. Weiße Schrift auf rotem Hintergrund, das einprägsamen Firmensignet mit dem stilisierten S und dem sattsam bekannten Slogan: „Wenn’s um Geld geht - Sparkasse.“ Daneben das Foto eines Hippie-Pärchens, mokant untertitelt mit: „Die Reichen von morgen sparen bei uns.“ Aicher wusste natürlich um Trends und Moden, er setzte bei der Ausgestaltung bahnbrechender Druckwerke jedoch nur sparsam subtil-reduzierten Stilmittel jener antiautoritär geprägten Jahre ein - etwa dann, wenn wieder einmal ein spießbürgerliches Bankhaus zu einem coolen Spaßzentrum umgedeutet werden sollte.

Zu dieser Zeit verwendet er noch die Schrift Univers, erst gegen Ende seines Lebens wird er seine eigene Typografie entwickeln. Rotis heißt sie, benannt nach dem Allgäuer Weiler, in dem Aicher und seine Familie seit den Siebzigern leben. Protestantischen Kirchgängern ist die serifenlose Antiqua-Schrift des gläubigen Katholiken Otl Aicher längst vertraut: Das Evangelische Gesangbuch ist seit dreißig Jahren in Rotis gesetzt. Großbuchstaben aber fügte Aicher seiner Neuschöpfung nur widerwillig und erst nachträglich hinzu. Für ihn, der konsequent alles klein schrieb, war selbst die Orthografie politisch. Einzelne Wörter durch Großbuchstaben hervorzuheben, war für Aicher ein Symbol der Hierarchie und Unterdrückung.

In seiner gesellschaftskritischen Schrift „Kritik am Auto“ hatte Otl Aicher 1984 noch die schwierige „Verteidigung des Autos gegen seine Anbeter“ versucht. Sieben Jahre später wurde er selbst Opfer der Motorisierung. Als er mit dem Aufsitzrasenmäher rückwärts aus seinem Grundstück kutschierte, erfasste ihn ein Motorradfahrer. Aicher erlitt schwere Kopfverletzungen, an deren Folgen er verstarb. Er wurde 69 Jahre alt.

Winfried Nerdinger und Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.), „Otl Aicher - Designer. Typograf. Denker“, 256 Seiten mit 250 farbigen Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, Prestel Verlag, 49 Euro.

Das Buch ist seit 9. Mai 2022 im Buchhandel erhältlich. Infos zum Gesamtprogramm des Prestel-Verlags sowie der Penguin Random House Verlagsgruppe hält das Internet unter www.penguinrandomhouse.de bereit.

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