„Die Straße hat mir geholfen“

Der ehemalige Obdachlose Benjamin Nover im Interview

by

© Klaus Mai

Benjamin Nover kann mit seinen 34 Jahren bereits auf ein bewegtes Leben zurückblicken: Im holländischen Utrecht geboren verlebte er eine schwere Kindheit und Jugend bis er um die Jahrtausendwende in die Fänge einer freichristlichen Sekte geriet. 2005 schaffte er den Ausstieg, lebte seither jedoch obdachlos und fand später als Illustrator und Autor seine Berufung und zurück ins Leben. Mittlerweile ist Benjamin Nover glücklich verheiratet und seit 2009 wieder sesshaft. FRIZZ Redakteur Benjamin Metz traf ihn zum Gespräch.

FRIZZ: Du warst nach einer abgebrochenen Ausbildung von 2005 bis 2009 obdachlos. Wie kam es dazu? Du hattest einen Ausbildungsplatz und nach einer schweren Kindheit und Jugend schien es eigentlich das erste Mal rund zu laufen in Deinem Leben.

Benjamin: Ich bin bin sehr freichristlich erzogen worden und kam nach meinem Umzug nach Deutschland erst in Mainz und später dann in während meiner Ausbildung in Darmstadt mit der Pfingstgemeinde in Kontakt. Ich fand dort schnell Anschluss und war irgendwann permanent in der Gemeinde und habe mitgearbeitet. Später musste mir mein Ausbilder kündigen, weil der Betrieb nicht mehr lief. Daraufhin bin ich zur Bundeswehr und kam dort zum ersten Mal seit Jahren mit „normalen“ Leuten, also Leuten außerhalb der Gemeinde zusammen. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich bin nach meiner Zeit bei der Bundeswehr aus der Gemeinde ausgetreten, verlor dadurch aber auch quasi alle meine Freunde, denn die Gemeinde verbot jeden Kontakt zu mir. Das hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Mir war alles ziemlich egal, meine Wohnung vermüllte langsam, dann kam die Kündigung des Vermieters und so bin ich auf der Straße gelandet.

FRIZZ: Warum entscheidet man sich für ein Leben auf der Straße? Es hätte doch sicher auch Alternativen gegeben. Wie sieht es denn mit der staatlichen Fürsorge in der Praxis aus?

Benjamin: Wenn Du so jahrelang ganz fest in einer Glaubensgemeinschaft gelebt hast, entwickeln sich eine ziemliche Abneigung und ein großes Misstrauen allen Menschen gegenüber, die nicht so denken wie Du. Nach meinem Austritt habe ich mich total isoliert und wollte mir schlicht und einfach nicht helfen lassen. Mir war alles egal. Das war eine sehr schwierige Phase in meinem Leben. Deswegen muss ich auch sagen, dass mir die Straße geholfen hat, wieder ins Leben zu finden.

FRIZZ: Auf der Straße hast Du schließlich die ebenfalls obdachlose Nicole kennengelernt und es war dem Vernehmen nach Liebe auf den ersten Blick, kurze Zeit später habt Ihr geheiratet. Ich kann mir vorstellen, dass diese Begegnung Euch beiden viel Kraft gegeben hat. Welche Erinnerungen hast Du an Eure Begegnung?

Benjamin: Ich kannte Nicole schon vor meiner Zeit auf der Straße. Allerdings haben wir nie sehr viel miteinander gesprochen, aber ich spürte, dass sie mich sehr mag. Aber sie war definitiv zu jung. Wie sind ja altersmäßig acht Jahre auseinander. Ich bin damals erst mal nach Spanien und habe dort überwintert. Nach meiner Rückkehr waren ihre Gefühle für mich immer noch da, und ich wollte auch nicht mehr alleine sein. Sie ist dann von zuhause weg und gemeinsam sind wir erstmal nach Holland und haben dort eine Zeitlang in der Hausbesetzerszene verbracht. Etwas später haben dann Nicoles Eltern eingewilligt, dass sie bei mir bleiben darf und nach ihrem 18. Geburtstag haben wir dann geheiratet. Seither sind wir als Team unterwegs und das Zusammensein, das Zusammenhalten hat uns beiden sehr gut getan. Wir führen eine glückliche Ehe.

© Klaus Mai

FRIZZ: Schließlich hast Du mit dem Zeichnen angefangen und irgendwann waren die Lobodots da. Was sind die Lobodots und wie kam es zu der Idee?

Benjamin: Ich habe eigentlich aus reiner Langeweile mit dem Zeichnen angefangen. Wenn man den ganzen Tag rumsteht und die Obdachlosen-Zeitung verkauft oder unter eine Plane liegt und keinen Fernsehen oder sonstige Ablenkung hat, sucht man sich eben eine Beschäftigung. Und bei mir war es das Zeichnen. Irgendwann waren die ersten Lobodot Figuren da und mein Onkel, ein Buchhändler, meinte, dass die Figuren toll sind und ich doch mal versuchen sollte, Geschichten für sie zu schreiben. So sind dann die ersten Kindergeschichten mit den Lobodots entstanden. Ich bin dann auf die Leipziger Buchmesse und habe über 300 Verlage abgeklappert und fand tatsächlich einen Verleger, der die Bücher dann herausgebracht hat.   

FRIZZ: Deine Zeichnungen sind sehr bunt und detailverliebt, vor allem aber tragen sie eine sehr kindliche Handschrift. Lebst Du in diesen Zeichnungen auch die glückliche Kindheit nach, die Du selbst nicht hattest?

Benjamin: Der Lobodot Jonas, das bin eigentlich ich als Kind. Ich habe die Geschichten über ihn für meine Mutter geschrieben, um ihr zu zeigen, wie sie mit mir in meiner Kindheit hätte umgehen sollen. Ich war ein hyperkatives Kind, hatte ADHS und es war sicher nicht einfach mit mir. Deswegen ist zwischen meiner Mutter und mir vieles schiefgegangen. Sie konnte damit einfach nicht umgehen und hat permanent geschimpft und mich geschlagen. Meine Geschichten sollen einfach zeigen, dass es auch anders geht. Dass es nicht immer die Keule sein muss. Wenn man bereit ist, sich in ein Kind hineinzuversetzen und sein Handeln zu verstehen versucht, sieht man, dass hinter einem Fehlverhalten trotzdem eine gute Absicht stehen kann.        

FRIZZ: 2008 drehte die Filmemacherin Caterina Woj einen Film über Dich und Deine Frau. "Benny und Nicole - Eine Liebesgeschichte von der Straße" beeindruckt vor allem durch Euren unbedingten Willen trotz Obdachlosigkeit stets das Beste aus eurer Lage machen zu wollen. Wie habt Ihr Euch damals diesen Optimismus bewahrt?

Benjamin: Ich muss vorneweg sagen, dass ich mich eigentlich nie als Obdachlosen gesehen habe, sondern mehr als Aussteiger. Die Straße war einfach eine Herausforderung aber kein Schicksal. Ich habe mich nie als Opfer gesehen, sondern fand, dass die Straße auch eine Freiheit bietet, die ich während meiner Zeit in der Sekte nicht hatte. Und mir gefällt das Leben draußen, ich war in meiner Jugend bei den Pfandfindern sehr aktiv und habe Campen immer schon geliebt. Im Sommer waren wir hier im Wald mit unserem Zelt und haben einfach gelebt.       

FRIZZ: Wie waren die Resonanzen auf den Film?

Benjamin: Das war eine zweischneidige Sache. Gestern war ich noch der Obdachlose und am nächsten Tag wollten Leute Selfies mit mir machen, weil sie uns im Fernsehen gesehen haben. Die Presse hat sich sehr für uns interessiert, ich wurde mit den Lobodots zu Austellungen eingeladen. Ich habe damals ganz fest daran geglaubt, dass dieser Schub mir helfen wird, von den Büchern einmal Leben zu können. Was aber leider nicht der Fall war. Ich war halt die Eintagsfliege damals. Allerdings muss man schon sagen, dass die Vorteile, den Film gemacht zu haben klar überwiegen. Durch ihn sind wir zum Beispiel an unsere Wohnung gekommen. Unser Vermieter hatte den Film gesehen und direkt Kontakt zu uns aufgenommen. Einen Tag später konnten wir einziehen.

FRIZZ: Eine fester Wohnsitz - wie hat sich das nach den Jahren auf der Straße angefühlt? Manche Obdachlose, und auch Du selbst, verklären ja auch diese Freiheit, die das Leben auf der Straße mit sich bringt, das Fehlen jeder Verpflichtungen.

Benjamin: Verpflichtungen hat man auch als Obdachloser. Man muss jeden Tag aufs Neue schauen, wo man sein Essen herbekommt und das ist nicht unbedingt einfach. Mit der Wohnung geht’s uns auf jeden Fall finanziell schlechter, jetzt kommen alle möglichen Rechnungen (lacht). Gas, Strom, alte Schuldner wie die GEZ melden sich wieder. Die haben in den Jahren meiner Obdachlosigkeit schön weiter Rechungen geschickt, die nie angekommen sind. Das erschlägt einen fast. Ich war schon kurz davor, die Wohnung wieder aufzugeben, weil mir das alles zuviel wurde. Aber wir haben sie behalten, weil meine Frau nicht mehr auf der Straße leben möchte. Aber so wirklich verändert hat sich unser Leben im Grunde nicht. 

© Klaus Mai

FRIZZ: Hast Du noch Kontakte zur Straße, gibt es Verbindungen zu Obdachlosen? Fühlt man sich gerade jetzt im Winter wieder an schwere Zeiten erinnert?

Benjamin: Da gibt es natürlich noch Kontakte, klar. Im Sommer geht’s den Obdachlosen übrigens paradoxerweise schlechter. Da stehst Du in der Stadt bei prallen 30 Grad und kein Mensch gibt Dir irgendwas, weil jeder meint, dass es doch warm ist und Du nichts brauchst. Im Winter hingegen haben die Leute Mitleid. Gerade jetzt in der Weihnachtszeit kann man sich, wenn man fleißig ist, eine gute Reserve aufbauen, die über den Winter reicht. 

FRIZZ: Die Flüchtlingskrise ist das Thema der vergangenen Monate. Aus rechtspopulistischen Kreisen ist immer wieder zu hören, dass man doch lieber erst mal den Obdachlosen hierzulande helfen sollte, als das Geld an Flüchtlinge zu verteilen. Wie fühlt sich diese Instrumentalisierung der Obdachlosen für Dich an?

Benjamin: Das ist die totale Heuchelei. Ich meine, was haben Flüchtlinge mit Obdachlosen zu tun? Den Obdachlosen geht es doch gut in Deutschland. Hier muss keiner auf der Straße leben, wenn er das nicht will. Denn die Stadt muss Dir eine Unterkunft stellen. Die ganze Hetze hat aber auch Gutes bewirkt. Denn die große Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge hat auch die Hilfe für Obdachlose spürbar stärker werden lassen. Seit die Flüchtlingskrise da ist, geht’s den Obdachlosen besser. Plötzlich gibt es überall Weihnachtsfeiern und Ausgabestellen für Klamotten. Dieses Jahr gibt es in Darmstadt fünf Weihnachtsfeiern für Obdachlose – das gab’s noch nie!

FRIZZ: Wie geht es bei Euch und den Lobodots weiter? Der "Projekte-Verlag", der Dich damals unter Vertrag genommen und die Lobodot-Bücher veröffentlicht hat, ist mittlerweile insolvent. Allerdings arbeitest Du bereits seit längerer Zeit an einem autobiografischen Roman, in dem Du die Erlebnisse während seiner Obdachlosigkeit aufarbeitest. Wie sehen Eure weiteren Pläne aus?

Benjamin: Die Lobodots habe ich beerdigt. Die Insolvenz des Verlages, dass da nichts mehr weiterging. Das hat mich ziemlich getroffen. Und leider sind die Lobodots etwas aus der Zeit gefallen, die Verlage wollen andere Geschichten für Kinder und setzen auch mehr auf 3D und solche Sachen. Ich konzentriere mich ganz auf den Roman mittlerweile. Ich schreibe jeden Tag an diesem Buch und werde das auf jeden Fall veröffentlichen. Man kann darin auch schon auf meinen Blog auf Facebook lesen. Ich wurde immer wieder gefragt, wie ich obdachlos geworden bin und wie ich die Zeit auf der Straße erlebt habe. So kam ich auf die Idee, diesen autobiografischen Roman zu schreiben. Aber das soll kein trauriges Buch werden, sondern den Leuten einfach das Leben aus der Perspektive eines Obdachlosen zeigen. Ich nehme die Leute an die Hand und zeige ihnen meine Welt und hoffe, dass ich damit viele Vorurteile abbauen kann. Denn Obdachlose sind nicht in erster Linie Versager, Säufer und Schmarotzer, sondern Menschen. Und jeder hat seine Geschichte. 

FRIZZ: Und Deine Träume? Wie sehen die aus?

Benjamin: Mein größter Traum ist ein eigenes Grundstück mit einem Bauwagen, in dem ich mit meiner Frau leben kann. Ein schönes Leben in freier Natur, aber nicht als Obdachloser, sondern als Bauwagenbewohner mit fester Anschrift. 

FRIZZ: Vielen Dank für das Gespräch.

Weitere Infos unter: 

www.dielobodots.de

www.facebook.com/MeineReise.DasLeben.auf.der.Strasse

www.facebook.com/groups/Sozialer.Zaun.Darmstadt

Back to topbutton