„Wir brauchen eine Phase Zwei“

Unterstützung für Brescia

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Die Corona-Pandemie hat Italien in seine schwerste Krise seit Jahrzehnten gestürzt. Vor allem die langjährige Darmstädter Partnerstadt Brescia in der Lombardei ist von Covid-19 schwer betroffen. FRIZZmag sprach mit der stellvertretenden Bürgermeisterin Laura Castelletti.


FRIZZmag: Am 30. Januar dieses Jahres rief die WHO aufgrund der Ausbreitung von Covid-19 in der chinesischen Region Wubei die „internationale Gesundheitsnotlage“ aus. Ab wann war ihnen und ihren Kolleg*innen klar, dass diese Ansage sich auch auf Europa und Italien Auswirkungen haben wird?

Laura Castelletti: Leider haben wir es sehr spät gemerkt. Zu viele Tage lang wurde die Bedeutung und Ansteckungsgefahr des Virus nicht verstanden und nicht kommuniziert. Erst Anfang März konnten die nationalen Gesundheitsbehörden, die Region Lombardei, die für die Gesundheit territorial zuständig ist und die italienische Regierung die erforderlichen Maßnahmen und Vorschriften einleiten. Die Wahrheit ist, dass wir -wie viele andere Länder der Welt - unvorbereitet waren. Es ist jedoch kein mildernder Umstand, unter anderen Ländern zu sein, einen solchen Fehler zu machen, geschweige denn ein Trost.

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Der Anstieg der Infektionszahlen verlief vor allem in Norditalien rasant. Worin lagen hierfür, rückblickend, ihrer Meinung nach die Gründe?

Das Virus breitete sich sehr schnell aus und die Ostlombardei war dabei das Epizentrum. Die Ansteckung begann in diesem Gebiet und nahm schnell zu, weil, wie erwähnt, zu Beginn kein klares Bewusstsein für die Gefahr, die von dem Virus ausgeht, bestand. Die betroffene Region ist ein dicht besiedeltes Gebiet mit hoher Mobilität mit vielen Unternehmen, vielen Pendlern und einer sehr aktiven Landwirtschaft. Darüber hinaus haben wir in diesem Bereich ausgezeichnete Krankenhäuser und Gesundheitszentren, die zu Beginn selbst zu Orten der Ansteckung wurden. Tatsächlich ist eines der schmerzhaftesten Kapitel dieses dramatischen Ereignisses die hohe Anzahl kranker Beschäftigter im Gesundheitswesen. Viele Ärzte starben.

Ab dem 10. März verkündete Ministerpräsident Conte Ausgangsbeschränkungen. Wie haben die Bürger in Brescia auf diese Anordnungen reagiert?

Die Bürger von Brescia hielten sich sofort loyal und streng an die Regeln, um ihre eigene Gesundheit und die anderer Menschen zu schützen. Leider waren diese Maßnahmen nicht ausreichend, da die Gesundheitsbehörden der Lombardei nicht genügend getestet hatten, so dass es keine ausreichende Information über die Anzahl der Infizierten und ihres familiären Umfelds gab. 

Die Ausgangsbeschränkungen gelten nun schon seit 10. März und sollen ab dem 3. Mai langsam zurückgenommen werden. Wie gehen die Menschen mit dieser langen Isolation um?

Die Ausgangsbeschränkungen sind mit einem lobenswerten Verantwortungsbewusstsein einher gegangen, aber auch mit so viel und verständlichem Leid. Für diejenigen, die alleine in sozialer Isolation leben, schafft es einen Zustand der Einsamkeit. Und selbst für diejenigen, die diese Wochen mit ihren Familienmitgliedern verbringen können, ist die Abwesenheit von Freunden, Arbeit, Training, Spiel, also dem ganz normalen täglichen Leben, eine schmerzhafte Erfahrung. Neben dem Beziehungs- und Kontaktverbot haben die Menschen Angst um ihre Gesundheit, aber auch um die wirtschaftliche Situation ihrer Familien und ihres Landes. Dies ist ein wirklich hoher psychologischer Druck, das Überleben ist schlichtweg bedroht. Die italienische Regierung stellte Mittel für den Kauf von Grundbedürfnissen bereit. Dank der Solidarität vieler Bürger und Unternehmen hat die Gemeinde einen speziellen Solidaritätsfonds eingerichtet, um den Bedürfnissen dieser Menschen gerecht zu werden. Es ist wirklich sehr schwer.

In der Hochphase waren aus der Lombardei dramatische Bilder zu sehen, beispielsweise Militärfahrzeuge, die Verstorbene aus den Kliniken abtransportierten. Das müssen auch für Sie als stellvertretende Bürgermeisterin sehr schwere Tage gewesen sein. Wie gehen Sie mit solchen Situationen um? Wie sieht eine Tagesordnung in Zeiten der Krise aus?

Mein persönliches Mitleid galt meinen Lieben und der gesamten Gemeinschaft, die ich vertrete. Das Coronavirus ist ein unsichtbarer Feind, hat aber tödliche Waffen und trifft unser Leben und uns, die in der Administrative tätig sind mit unerwarteter Macht. Wir haben unsere Arbeitsweise sofort und schnell neu organisiert, fingen mit „Smartworking“ an. Der Bürgermeister und ich, sowie alle Kollegen der Stadtregierung, aber auch die gesamte Verwaltung, die die wesentlichen Dienste managt, um die Stadt aktiv, ordentlich und sicher zu halten waren in den ersten Tagen dieser Pandemie im fortlaufendem Kontakt, um den ständig auftretenden Notfällen und Problemen gemeinsam zu begegnen. Es gab keine Stundenpläne, es gab keine Samstage und Sonntage. Andererseits leiden Menschen 24 Stunden am Tag und sind rund um die Uhr krank und müssen sofort Antworten erhalten. 

Meine Agenda ist dichter als zuvor.

©Comune di Brescia


Die Lombardei ist einer der wirtschaftsstärksten Regionen Italiens und von der Krise schwer getroffen. Lässt sich die Wirtschaft in ihrer Region reibungslos wieder hochfahren?

Brescia war die erste Industrieprovinz in Europa, die zweite in der Lombardei für das BIP, die dritte in Italien für das verarbeitende Gewerbe. Schocks sind unvermeidlich. Unsere Wirtschaft erleidet einen schweren Schlag und vielleicht brauchen wir Jahre für eine vollständige Erholung. Aber die Menschen aus Brescia haben immer noch ihre gewohnte Hartnäckigkeit, ihren Erfindungsreichtum und ihre außergewöhnlichen Arbeitsfähigkeiten. Ich glaube an diese Eigenschaften und möchte optimistisch sein.

Viele Selbstständige und Unternehmen stehen wegen des langen Shutdowns vor erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten – wie werden diese von der Regierung unterstützt?

Die italienische Regierung verabschiedete dringende Maßnahmen für Unternehmen und strategische Sektoren. Bei einige Menschen kamen sie positiv an, andere waren damit nicht einverstanden, aber in den kommenden Tagen werden weitere Maßnahmen und Ressourcen beschlossen. Aktuell gibt es im Parlament auch eine lebhafte Diskussion u.a über den Einsatz von „Coronabonds“. Ich glaube, dass es jetzt sehr wichtig ist, die Produktion und die Arbeitsaktivitäten nach mehr als fünfzig Tagen Stillstand wieder aufzunehmen. Wir brauchen eine „Phase Zwei“, die die Rückkehr zum Arbeitsleben, bei absoluter Sicherheit für alle, beinhaltet. Je mehr Zeit wir verschwenden, desto schwieriger wird es, sich wieder zu erholen.

Und gibt es Hilfe für die freien Kulturschaffenden und Veranstalter in Brescia? Diese werden ja aufgrund der Kontaktbeschränkungen noch sehr viel länger auf ihr Publikum verzichten müssen als der Einzelhandel.

Der Kultur- und Unterhaltungssektor ist einer der am stärksten betroffenen und in Italien leider immer noch schlecht geschützt. Es wird spannend sein, ob die italienische Regierung auf Anfrage von „Federculture“ (die nationale Vereinigung von öffentlichen und privaten Körperschaften, Institutionen und Unternehmen, die im Bereich der Kulturpolitik und -aktivitäten tätig sind, Anm. d. Red.) einen Kulturfonds einrichten wird: Sie könnte öffentliche und private Mittel zur Unterstützung des Sektors aufbringen. Wir wissen immer noch nicht, wann und wie wir wieder Museen besuchen, Theater und Kinos besuchen können. In der Zwischenzeit pflegen wir jedoch weiterhin enge Beziehungen zur Kulturwelt der Stadt und stärken kulturelle Netzwerke und Plattformen, die es uns ermöglichen, Ressourcen mithilfe neuer Formen der Kulturunterhaltung zu nutzen.

Die Lombardei ist auch touristisch eine sehr attraktive Region mit einer entsprechend starken Infrastruktur. Wie sehen sie hier die Entwicklung in den kommenden Monaten? Wann wird sich der Tourismus in Italien wieder von der Krise erholen?

Aufgrund dieser Pandemie ist der Tourismus komplett eingebrochen. Es ist absolut notwendig, ein Netzwerk aufzubauen und über Mittel und Subventionen der Regierung zu verfügen. Heute ist der Name Brescia wie nie zuvor auf der Welt bekannt - leider als das italienische Epizentrum der Pandemie. Wir müssen hart daran arbeiten, das zu ändern und wieder als die wunderbare Stadt der Kunst zwischen dem Gardasee und dem Iseosee gesehen zu werden, die so beliebt bei unseren deutschen Freunden ist. Wir haben ein sehr reiches natürliches, künstlerisches und monumentales Erbe, das wieder zu unserer Stärke werden wird, unserer Visitenkarte als attraktives und einladendes Reiseziel.

Seit 1991 verbindet Brescia und Darmstadt eine intensive überaus harmonische Städtepartnerschaft. Was kann Darmstadt, was können die Darmstädter*innen für die Bürger*innen von Brescia, das von der Krise ungleich härter betroffen ist, aktuell tun? Wie können wir helfen?

Darmstadt hat bereits viel für uns getan, viele wichtige konkrete Maßnahmen, die wir nie vergessen werden. Eure Freundschaft und Solidarität hat uns tief berührt! Darmstadt ist unsere erste Partnerstadt. In den letzten dreißig Jahren haben wir den Wert dieser Partnerschaft gespürt und jetzt ist  sie noch wichtiger und konkreter geworden. Wir werden für immer dankbar sein, dass ihr uns gezeigt habt, dass noch mehr als Regierungen, Kommunen und ihre Bürger dem europäischen Traum wirklich Kraft verleihen können. Ich möchte noch etwas abschließend sagen: Wenn Reisen wieder möglich sein werden - besucht uns! Die Menschen in Brescia werden euch mit einer herzlichen Umarmung der Dankbarkeit begrüßen. Es wird schön sein, sich gemeinsam zu treffen und zu genießen, was Brescia bieten kann: historische Zeugnisse von den Langobarden bis zu den Römern, von der Renaissance bis zur Kunst des 19. Jahrhunderts, von der Architektur des 20. Jahrhunderts bis zur zeitgenössischen Kunst, aber auch unsere Weine, unsere Gastronomie und vor allem unsere Freundschaft!

Vielen Dank für das Gespräch.

Weitere Infos HIER! 


Wer den Menschen in Brescia in der Not helfen und dem Aufruf folgen möchte, kann auf folgendes Konto spenden:


Die Spendengelder sind für das Projekt „SOStieni Bresciabestimmt, das einzelne Personen, Familien sowie kleine Handwerks- und Handelsbetriebe, die durch die Pandemie in Notlage geraten sind, unterstützt.

laura_castelletti.bio


Laura Castelletti, 1962 in Brescia geboren, wurde 1991 erstmals zur Stadträtin von Brescia gewählt und 1998 wiedergewählt. Von Ende 1998 bis März 2008 war sie die Präsidentin des Stadtrats. Seit 2013 ist sie als stellvertretende Bürgermeisterin von Brescia u.a. zuständig für kulturelle Aktivitäten, Beziehungen zu Institutionen und Institutionen der Kulturförderung, Tourismusförderung der Stadt und (Städte-)Partnerschaften.


FRIZZ dankt Monika Schmitt-Sittmann (Wissenschaftsstadt Darmstadt / Amt für Interkulturelles und Internationales) und Camilla Roasio (Büro für Tourismus und Städtepartnerschaften Brescia) für die freundliche Unterstützung.
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