„Wir legen den Finger in die Wunde“

„Die Nerven“ präsentieren neues Album

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Spätestens seit ihrem 2018er Album „Fake“ gehören „Die Nerven“ endgültig zur Speerspitze der deutschen Indierock-Szene. Auch auf seinem neuen, selbstbetitelten Album weiß das Stuttgarter Trio zu überzeugen. Aktuell stellt die Band das Werk auf großer Tournee, die sie im November auch in den Wiesbadener „Schlachthof“ führen wird, live vor. FRIZZmag traf Bassist und Sänger Julian Knoth vorab zum Gespräch.


FRIZZmag: Ihr habt bereits 2018 mit den Arbeiten an eurem neuen Album begonnen, die dann von der Pandemie überschattet wurden. Welchen Einfluss hatte Corona auf die Entstehung der Platte? Wäre „Die Nerven“ ohne die Pandemie ein anderes Album geworden?


Julian Knoth: Einen großen Einfluss hatte die Pandemie eigentlich nicht, weil wir einen Großteil der Songs für das Album bereits davor geschrieben hatten. Indirekt wirkt sich Corona aber schon aus, denke ich, weil die Texte durch die Pandemie hier und da eine andere Bedeutungsebene erfahren haben. Und sicher hatte auch der Stillstand in 2021 Auswirkungen auf das Album, weil Max dadurch viel mehr Zeit für das Mischen der Platte hatte, als eigentlich geplant war. Zudem haben wir die Zeit genutzt, um bei uns an einigen Business-Stellschrauben zu drehen, wie unserem Management und unserer Promo-Agentur.    


Es fällt auf, dass sich bei der neuen Platte einiges verändert hat: das „ein Schlagwort für den Titel“-Konzept ist ad acta gelegt, die Songs sind mitunter deutlich opulenter produziert, ich denke da an „Ein Influencer weint sich aus“ mit den ganzen Streichern. Auch eure Arbeitsweise im Studio scheint sich seit „Fake“ neu ausgerichtet zu haben. Oder täuscht der Eindruck?


Nein, das stimmt schon. Unser erstes Album „Fluidum“ hatten wir komplett in Eigenregie gemacht, dann kam unsere „Trilogie“ mit den drei englischsprachigen Titeln „Fun“, „Out“ und „Fake“, die wir mit Produzent Ralv Milberg aufgenommen haben. Uns war schon recht früh klar, dass wir für das neue Album andere Wege gehen wollten. Bei der Produktion von „Fake“ in Italien sind wir schon sehr an die Grenzen gegangen, was uns dazu gebracht hat, unsere Arbeitsprozesse mal zu überdenken. Dieses Mal wollten wir besser vorbereitet sein und haben das ganze Album im Rahmen einer Vorproduktion schon vorab als Demo aufgenommen. Und wir wollten uns mehr Zeit für das Schreiben der Songs lassen und so viel wie möglich wieder selbst machen. Am Ende hat Ralv aber dann doch das Master des neuen Albums erstellt, womit sich für mich irgendwo ein Kreis schließt. 


„Die Nerven“ bezeichnet ihr selbst als euer „schwarzes Album“ - warum?


Das war ein Prozess. Das hat sich im Laufe der Produktion so ergeben. 


Das Cover ziert das Porträt eines schwarzen Schäferhundes auf schwarzem Grund. Euer Sänger und Gitarrist Max meinte in einem Interview, dass das ursprüngliche Motiv deutlich aggressiver gedacht war, mit fletschenden Zähnen, Maulkorb und grellen Signalfarben. 


Ja, wir wollten eigentlich ein Cover, das einen direkt anspringt. Aber dann kam die Pandemie und die Idee mit dem Maulkorb schien uns dann doch nicht mehr so geeignet. Und im Laufe der Aufnahmen merkten wir, dass sich die Stimmung der Songs verändert hat und sich eine gewisse Melancholie, etwas Düsteres über die Lieder gelegt hat. Also mussten wir uns nochmal mit dem Cover auseinandersetzen und der schwarze Hund auf schwarzen Grund passte zu unserem „schwarzen Album“. „Die Nerven“ ist kein Neuanfang, aber sicher ein neues Kapitel in unserer Musik. 


Das finale Motiv ist sehr ruhig ausgefallen. Wobei „ruhig“ vielleicht nicht ganz passt... der Blick des Hundes lässt sich nicht wirklich deuten.


Ja, und das passt auch sehr gut zu unserer Musik und zu unseren Texten, die sich auch auf ganz unterschiedlichen Weisen wahrnehmen lassen. Bei uns steckt viel zwischen den Zeilen. Dieses Cover und seine Mehrdeutigkeit machen daher absolut Sinn für uns.


Im Frühjahr habt ihr die Vorabsingle „Europa“ veröffentlich, die sehr gut die Entwicklung der vergangenen Jahre beschreibt. „Eine Kindheit, eine Jugend, ein Turm aus Elfenbein. Alle sagen immer wieder, so wird’s nie wieder sein“ heißt es in dem Song. Welche Bedeutung hat Europa für euch?


Man hat uns nach dem Release mitunter Naivität vorgeworfen und es kam die Frage, ob wir die letzten Jahre unter einem Stein gelebt hätten, dass wir jetzt erst solche Fragen stellen. Natürlich sind uns diese Probleme, dieses Abbröckeln der Fassade schon viel früher bewusst gewesen. Uns ist absolut klar, wie privilegiert wir sind, hier leben zu können. Denn diese „Festung Europa“ baut auch auf sehr viel Leid auf. Viele Meschen erhalten keine Eintrittskarte in unser Europe und sterben beim Versuch, hierher zu kommen. Auf der anderen Seite sehe ich natürlich auch sehr viele Werte in Europa, für die ich auch unbedingt einstehen kann. Ich sehe Europa sehr ambivalent.


„Und ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie“ ist eine weitere Zeile des Stücks. Ihr habt den Song bereits vor dem Einmarsch in die Ukraine geschrieben. 


Ja, und ich denke auch an den nachfolgenden Song „Ich sterbe jeden Tag in Deutschland“. Da geht’s auch um dieses ambivalente Gefühl, dass ich Patriotismus ablehne bzw. mir dieser fremd ist, mir aber auch bewusst ist, dass viele Menschen, die in anderen Teilen der Welt verfolgt werden, bei uns in Deutschland sicher sind. Aber auch diese Sicherheit ist gefährdet von rechten Gruppen und anderen Strömungen. Wir bieten mit unseren Songs keine konkreten Lösungen, aber wir weisen auf die Probleme hin. Wir legen den Finger in die Wunde.


Bereits seit euren Anfängen begleitet euch eine große Verehrung des Feuilletons. Auch zur Veröffentlichung des neuen Albums ist die Presse wieder voll des Lobes und geizt nicht mit Superlativen. So nennt Euch der „Rolling Stone“ „eine der wichtigsten und besten Bands des Landes“. Wie geht ihr mit solchen Statements um? Setzt Euch das unter Druck oder tangiert das eher nicht?


Wir mussten schon relativ früh lernen, damit klarzukommen. Aber es fällt am Ende ohnehin alles wieder auf uns selbst zurück. Egal, was die Leute schreiben, die Band in ihrer Essenz sind nur wir drei zusammen im Raum und wir machen Musik. Eigentlich lese ich über solche Sachen mittlerweile drüber. Im Endeffekt bedeutet es nichts. 


Neben „Die Nerven“ seid ihr auch in anderen Bands und Projekten tätig, so spielst du beispielsweise auch noch mit deinem Bruder bei „Yum Yum Club“ und „Peter Muffin Trio“ und betreibst noch das Label „Butzen“. Wie bekommen du und deine Bandkollegen all die Projekte unter einen Hut? 


Das ist eigentlich kein großes Problem, weil bei uns alles immer blockweise abläuft. Wir wissen ja, wenn wir zwei Monate mit „Die Nerven“ auf Tour sind, ist diese Zeit geblockt und dafür hat man dann im Anschluss Zeit für die anderen Projekte. 


Welche Bedeutung haben diese Nebenprojekte für „Die Nerven“? Spornen die als eine Art interner Wettbewerb an oder sind sie am Ende sogar Inspiration für Eure Arbeit in der Stammband?


Es gab tatsächlich mal eine Zeit, wo sich diese Projekte ein bisschen nach Konkurrenz angefühlt haben und man etwas unentspannter damit war. Aber irgendwann haben wir gemerkt, dass wir als „Die Nerven“ dann am besten sind, wenn wir auch diese anderen Projekte machen und unsere Freiheiten haben. Es ist toll, wenn wir drei wieder zusammenkommen und all die Erfahrungen aus den anderen Projekten mit in den gemeinsamen Topf werfen und sehen, was dabei rauskommt. Das ist ein wichtiger Teil zum Verständnis, wie wir funktionieren.


Ihr werdet auch noch heute als „Band aus Stuttgart“ bezeichnet, dabei sind Max und Kevin schon vor einiger Zeit nach Berlin gegangen, weil Stuttgart ihnen zu wenig Möglichkeiten bot. Du hingegen bist Stuttgart weiterhin verbunden, aktuell sogar als stellvertretender Bezirksbeirat dort politisch aktiv. Was hält dich in Stuttgart?


Mich zieht’s nicht nach Berlin. Ich mag Berlin, ich bin da oft genug. Ich fühle mich einfach der Region und meiner Familie sehr verbunden. In den letzten Jahren hatte ich ab und an den Wunsch, vielleicht mal aus Stuttgart raus zu kommen, aber dann würde es mich auch nicht aus der Region sondern nur aus der Stadt raus ziehen. Vielleicht wieder mehr nach Esslingen, wo wir ursprünglich herkommen.  


Was sind eure nächsten Schritte nach der Albumveröffentlichung und der nun anstehenden Tour? Vielleicht mal eine Zusammenarbeit mit Orchester? Ich denke den bereits angesprochenen „Influencer“-Song und euren wunderbaren Auftritt mit dem „Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld“ beim „ZDF Magazin Royal“ vor einigen Monaten.


Das ist immer von der jeweiligen Musik abhängig. Wenn der Song diese Opulenz braucht, bekommt er die. Und wenn nicht, dann nicht. Aktuell reden wir zwar ab und zu schon wieder über neue Songs, haben aber noch keine konkreten Pläne. Aber die Zeit wird auf jeden Fall kommen und dann werden wir sicher wieder einiges anders machen, wie auf dem aktuellen Album. Das ist der ganz normale Vorgang bei uns. 


Vielen Dank für das Gespräch.


Weitere Infos unter: 

www.facebook.com/deinemutteralter

www.instagram/dienerven


FRIZZmag präsentiert: „Die Nerven“ live!

Mo. 14.11., 20 Uhr, Schlachthof, Wiesbaden
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